Attendorn. Den Großteil seines Lebens war das heute neunjährige Kind in einem Haus in Attendorn versteckt. Jetzt darf es erstmals eine Schule besuchen.

Der Einsatz ist ein Jahr her. 27. Dezember 2021. Routine für die Feuerwehr. Schwelbrand, Dachgeschoss, Einfamilienhaus in Attendorn. Die Wehrleute öffnen eine Zwischendecke und löschen das Feuer. So steht es in einem Bericht der Feuerwehr, der keiner weiteren Erwähnung wert wäre, wenn sich dieser Einsatz nicht in einem besonderen Haus abgespielt hätte: In dem Haus, aus dem im September 2022 ein acht Jahre altes Mädchen befreit werden musste, das dort mutmaßlich für die längste Zeit seines Lebens eingesperrt worden war – von seiner Mutter und den Großeltern in deren Haus.

Verstecktes Mädchen von Attendorn: Keinerlei Hinweise auf Anwesenheit

Der Fall des Mädchens machte deutschlandweit Schlagzeilen. Das Kind wurde von Jugendamt und Polizei aus dem Haus geholt und einer Pflegefamilie übergeben. Gegen die Mutter und die Großeltern wird wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen staatsanwaltlich ermittelt. Aber wie schwierig das trotz aller Akribie ist, zeigt auch die Episode mit dem Feuerwehreinsatz.

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Blieben Mutter und Tochter tatsächlich während des Feuers versteckt im Haus, während die Großeltern vor der Tür gestanden haben sollen? Oder hielten sich Mädchen und Mutter an jenem Tag woanders auf? Ist niemandem etwas aufgefallen, keinem Polizisten, keinem Feuerwehrmann, keinem der Handwerker, die später die Schäden behoben? „Alle haben uns erzählt, dass sie keinerlei Hinweise auf die Anwesenheit von Mutter und Tochter ausgemacht haben“, erklärt Siegens Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss auf Nachfrage dieser Redaktion. Wieder eine Spur, die ins Nichts führt.

Fast 100 Tage sind seit der Inobhutnahme des Kindes vergangen und nach der dröhnenden Empörung über die Frage, wie so etwas passieren kann, noch dazu in einer Kleinstadt wie Attendorn, ist zumindest außerhalb der Stadtgrenzen etwas Ruhe eingekehrt. Aber was passiert hinter den Kulissen?

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Die Ermittlungen liefen weiterhin auf Hochtouren, sagt der Staatsanwalt. Erst ein Teil der Jugendamtsmitarbeiter sei vernommen worden. Aber er räumt auch ein: „Die Ermittlungen sind sehr, sehr mühsam, weil alle, die etwas beitragen könnten, als Beschuldigte schweigen oder in einem so engen Verwandtschaftsverhältnis stehen, dass sie das Zeugnis verweigern dürfen.“

Erstmals Kontakt zwischen Mutter und Tochter seit der Trennung

Heißt: Mutter und Großeltern schweigen. Der Vater hatte keinen Kontakt zum Kind. Er wähnte es in Italien, weil die Mutter den Behörden gegenüber einen Umzug dorthin vorgetäuscht hatte. In einer Einliegerwohnung des Tatort-Hauses lebte der Bruder der Mutter. Ob er etwas wusste? „Man kann es vermuten, aber wen sollen wir da fragen“, sagt Grotthuss. Der Bruder verstarb schwer krank im Oktober.

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Die Hoffnungen der Ermittler ruhen daher weiterhin auf dem Kind. Es feierte Anfang Dezember seinen neunten Geburtstag. Zu diesem Anlass war der Mutter erstmals Briefkontakt erlaubt, ebenso wird es wohl an Weihnachten sein, sagt Michael Färber, der zuständige Fachbereichsleiter beim Kreis Olpe. „Inwieweit zukünftig auch begleitete Treffen möglich sind, wird im Rahmen der Hilfeplanung unter Einbeziehung der Therapeuten und Psychologen zu klären sein – auch unter Berücksichtigung der Wünsche des Kindes.“ Diesem war in seiner Isolation rechnen und schreiben beigebracht worden. Seit dieser Woche besucht das Mädchen zum Einstieg stundenweise eine Schule.

Ergänzungspfleger muss einer Vernehmung des Kindes zustimmen

Ob und wann eine Vernehmung des Kindes möglich ist, ist eine weitere zentrale Frage. „In diesem Fall sind wir aber fremdgesteuert, weil der Ergänzungspfleger über den Zeitpunkt bestimmt, wann ein Gespräch mit dem Kind aus gesundheitlicher Sicht unbedenklich ist“, sagt Staatsanwalt von Grotthuss. Der Ergänzungspfleger ist ein vom Amtsgericht bestellter Anwalt aus dem Kreis Olpe, der die Interessen des Kindes wahrnimmt.

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Wegen des beharrlichen Schweigens der Familie „sind wir auf die Angaben des Kindes letztlich angewiesen“, sagt von Grotthuss. Nur der Ergänzungspfleger kann die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht befreien, nur dann können die medizinischen Befunde auch verwertet werden. „Ich rechne in diesem Jahr mit keiner Entscheidung mehr in der Sache, sondern eher zu Beginn des neuen Jahres“, sagt von Grotthuss. Mindestens bis dahin bleiben das Leben des Mädchens und die Motive der Mutter und Großeltern unklar.

<<< HINTERGRUND >>>

Die Anwälte von Vater und Mutter haben sich bereits in der Öffentlichkeit geäußert, wollen dies aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht erneut tun. Schon bei der Geburt des gemeinsamen Kindes sollen Vater und Mutter kein Paar mehr gewesen sein.

Hinweise darauf, dass sich das Kind in dem Haus in Attendorn befinde, habe es mehrfach gegeben. Das Jugendamt ging diesen auch nach – wurde aber nicht ins Haus gelassen.