Attendorn. Jahrelang wird ein Mädchen zu Hause eingesperrt. Was das Spielzeug den Ermittlern verrät und wie der Fall eine beschauliche Stadt bewegt.
Es gibt ein Video, nur zehn Sekunden lang. Jemand, der zufällig vorbeikam, hat es gemacht. Zu sehen sind zwei Mannschaftswagen der Polizei. Nicht im Bild, sagt die Person, die die Bilder aufgenommen hat: ein weiterer Mannschaftswagen, ein Auto der Kriminalpolizei, ein Fahrzeug des Jugendamtes und entsprechend viele Beamte, die die Aktion begleiten. Ein Gerichtsvollzieher ist ebenfalls anwesend. Freitag, 23. September, 14.15 Uhr: Der Moment, in dem in Attendorn (Kreis Olpe) ein achtjähriges Mädchen befreit wird. Fast sein ganzes Leben war es von der Mutter und den Großeltern in deren Haus eingesperrt worden.
Spielzeug in mehreren Räumen gefunden
Knapp eine Woche, nachdem der Fall bekannt geworden ist, wirkt Attendorn auf den ersten Blick wie das Städtchen, das es war. 24.000 Einwohner, starke Wirtschaft, stets weit vorn in NRW, wenn die Millionärsdichte statistisch erhoben wird. Es gibt ein großes Wirtshaus, putzige Cafés, Geschäfte mit Mittagspause, makellose Pflastersteine in der Innenstadt, einen uralten Baum auf dem Marktplatz, unter dem die Bürger auf Bänken sitzen und dem Geläut des Doms lauschen können. Nur die Herbstbäume werfen hier achtlos etwas auf die Straße.
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„So etwas“, sagt eine junge Frau, die in unmittelbarer Umgebung des Tatorts wohnt, „kennt man ja nur aus Filmen.“ Vor wenigen Monaten ist sie hergezogen. Sie hat in dieser Zeit nichts mitbekommen, sagt sie. Wie alle anderen eigentlich auch. Das ist ja die Frage, die die Menschen in der Stadt umtreibt: Wie konnte das über all die Jahre mitten unter ihnen unerkannt geschehen?
Einwohnermeldeamt: Datenabgleich findet nicht statt
„Alle haben wieder auf ganzer Linie versagt“, sagt eine Frau im Café nahe des Doms zu ihrer Begleitung. Sie sitzen am Tisch, trinken Kaffee, reden laut. „Es ist immer dasselbe, wenn so etwas passiert.“ Der Mann sagt, dass es ja auch leicht sei zu verschwinden, wenn die Behörden nicht miteinander sprächen.
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Die Mutter hatte sich 2015 in Attendorn abgemeldet und eine neue Adresse in Süditalien angegeben. Ein Datenabgleich mit ausländischen Behörden finde nicht statt, heißt es am Donnerstag auf Nachfrage vom Einwohnermeldeamt in Attendorn. „Es gab eine reale Adresse in Italien, wo nach Aussage der Großeltern des Kindes Verwandte wohnen. Daher erschien dies aus der damaligen Sicht auch plausibel“, sagt Michael Färber, Jugend-Fachbereichsleiter im Kreis Olpe.
Spielzeug in mehreren Räumen gefunden
In Italien aber wohnte die Mutter nie. Seit 2015 war das Kind im Haus eingesperrt. Spielzeug sei im gesamten Wohnbereich der Großeltern gefunden worden, bestätigt Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss. Man gehe daher davon aus, dass das Kind sich zumindest in diesem Bereich frei bewegen konnte. Auch die Mutter verließ das Haus so gut wie nie. Nach der Inobhutnahme habe sie dem Jugendamt zweimal Kleidung und Spielzeug für das Kind gebracht, berichtet Fachbereichsleiter Färber.
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„Ich habe immer den Blumenschmuck auf den Fensterbänken bewundert“, sagt ein älterer Mann, der in der gleichen Straße wohnt. „Das machte immer einen gepflegten Eindruck.“ Der Opa habe sich gern um Haus und Pflanzen gekümmert. „In der Vorwoche habe ich ihn noch getroffen und ihm die Hand geschüttelt. Sie waren eine Familie wie jede andere auch.“ Wobei…! „Zusammen mit seiner Frau habe ich ihn nie gesehen.“ Überhaupt habe sich die Straße verändert. Früher hätte jeder seine Gartenhütte gehabt, man habe als Nachbarn gemeinsam gefeiert und sich auch in Vereinen engagiert. Früher.
„Da kann man mal sehen, wie kalt unsere Welt geworden ist“
Seit etwa 20 Jahren wohne die Familie in dem Haus. Es liegt nahe der Innenstadt, umgeben von Häusern, die aber Abstand halten oder keine Fenster in diese Richtung haben. Die Großmutter soll sich ehrenamtlich in einem Wohlfahrtsverband engagiert haben, wo sie die Not anderer zu lindern versuchte.
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Ein älteres Ehepaar geht vorbei, sie zupft an seinem Ärmel, deutet auf die Tür. „Ich habe das Haus gerade wiedererkannt.“ Im Fernsehen hat sie es gesehen. „Dass das keiner gemerkt hat…“, sagt sie und spricht den Satz nicht zuende. „Da kann man mal sehen, wie kalt unsere Welt geworden ist“, sagt er.
Sätze, die anfangen, aber nicht enden: Attendorn fehlen die Worte
Weiter entfernt passiert eine Dame das Haus. Immer wieder schaut sie wie viele andere auch herüber. Aber niemand schließt das geöffnete Dachfenster, niemand öffnet die Jalousien, niemand schaut aus dem Fenster. „Dass die Großeltern das mitgemacht haben…“, sagt sie und spricht den Satz nicht zuende. Attendorn fehlen die Worte.
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Sie kennt Oma und Opa, gemeinsam hat auch sie die beiden ebenfalls nie gesehen. „Der Großvater war fast jeden Tag in der Stadt unterwegs.“ Letzten Freitag zuletzt, das habe jemand in ihrer Sportgruppe erzählt. „Ein sehr netter Mann.“
Attendorn macht bundesweit Schlagzeilen. RTL und SAT1 bauten schon am Sonntag ihre Kameras in der Stadt auf. Die Bild-Zeitung war da, Spiegel, Welt und Süddeutsche Zeitung berichten. „Eine Verwandte aus Süddeutschland“, sagt die Frau, „hat mich gestern angerufen und gefragt: Was ist denn bei euch los?“ Als wenn jeder Bürger der Beihilfe schuldig wäre. Als hätte jemand früher wissen oder sehen müssen, was womöglich gar nicht zu wissen und zu sehen war.
Beschuldigte lassen polizeiliche Vernehmung aus – und schweigen
Verändert das Ereignis den Blick auf die eigene Stadt? „Nicht direkt“, sagt die Frau, die seit 60 Jahren in Attendorn wohnt: „Jetzt gerade denke ich nur, dass man vielleicht aufmerksamer sein sollte.“
Vorerst bleiben die vielen Fragen. Denn die, die Antworten haben, schweigen weiterhin, sagt Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss: Mutter und Großeltern seien zur polizeilichen Vernehmung nicht erschienen. Dies sei ihr gutes Recht und völlig normal.
Der Jemand, der das Video angefertigt hat, wohnt nicht weit entfernt. Er hat sich nicht weiter gefragt, was da los gewesen sein könnte. „Man denkt ja nicht, dass so etwas passiert“, sagt der Jemand. Nicht bei sich vor der Tür, nicht in Attendorn. „Man guckt den Menschen immer nur vor den Kopf.“