Hagen. An der Frage scheiden sich die Geister: Darf man Fremde duzen? Das Jugendherbergswerk findet ja – dem Mitarbeiter fällt das gar nicht leicht.

Ein kleines Zettelchen hat sich Nijaz Kannenberg an seinen Computer-Bildschirm geklebt. Als Erinnerung, weil ihm das alles noch nicht so leicht fällt, weder am Telefon, noch Auge in Auge. „Was kann ich für dich tun“, steht auf dem Zettel. Für dich. Nicht für Sie.

Nijaz Kannenberg ist der Leiter der Jugendherberge Eppenhausen in Hagen, 48 Jahre alt, lange zu Hause gewesen in der gehobenen Hotellerie: Golfhotel Menden, Grand Elysée in Hamburg. „Ich bin eher noch vom alten Schlag“, sagt er, „ich muss mich derzeit noch an die neuen Regeln gewöhnen.“

Wie bei IKEA: Deutsches Jugendherbergswerk stellt auf das Du um

Die neuen Regeln hat das Deutsche Jugendherbergswerk festgelegt – und sie gelten für das gesamte Bundesgebiet und damit auch für Westfalen-Lippe mit seinen 29 Jugendherbergen, die über 600.000 Übernachtungen im Jahr verzeichnen: von Schulklassen mit ihren Lehrern, von Familien, von Seminargruppen und Einzelgästen.

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Und alle werden – egal ob biblisch alt oder mit beruflichen Meriten behängt – offiziell seit dem 20. Mai erstmal geduzt. Wie bei IKEA, dem schwedischen Möbelriesen. Vor Billy, Lack und Poäng sind alle gleich. Ist das frech und dreist oder nett und erfrischend?

Der eine duzt und der andere siezt – was dann?

Ein Schild an der Rezeption der Jugendherberge weist darauf hin, einen Anstecker mit der Aufschrift „Gerne per DU“ trägt Kannenberg am Hemd. „Zur Jugendherberge passt das natürlich gut, da steckt das Wort Jugend ja schon drin. Hier geht es lockerer zu als in einem Hotel“, sagt Kannenberg. Negative Reaktionen habe es bislang nicht gegeben.

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Aber Hemmungen, das merkt man, hat er schon noch, den Lehrer zu duzen, der eine Ecke älter ist als er. „Und wenn ich den Gesprächspartner am Telefon duze und der mich weiterhin siezt, dann hat man natürlich auch das Gefühl, dass es demjenigen vielleicht nicht so gut gefällt“, sagt er. Manchmal, sagt er, versucht er dann die direkte Anrede zu vermeiden.

5-Sterne-Hotel: Das Sie gehört zum Wohlgefühl dazu

Ein Gast aus Bielefeld kommt die Treppe herunter, 55 Jahre alt, mit seinen beiden Söhnen ist er zu Gast und eben nicht der Herr Müller, sondern...sagen wir der Richard. „Ich habe da kein Problem mit. In der Arbeitswelt duzt man sich ja mittlerweile auch viel.“

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Joa, nur eben nicht überall. Denn es gibt sie ja doch, die Bereiche, in denen das Durchduzen als übergriffig und respektlos gelten würde. Im 5-Sterne-Hotel zum Beispiel. „Wertschätzung, Höflichkeit und Respekt gegenüber dem Gast sind das oberste Gebot in unserem Hause. Das förmliche Sie gehört zum Wohlgefühl und zur Seriosität dazu – und das wird auch nicht geändert“, sagt Edmund Dornhöfer, 68 Jahre alt, Chef der Glashütte in Bad Laasphe. „Ich halte es für undenkbar, das Filet Wellington zu servieren und dann zu sagen: Lass es dir schmecken! Das passt nicht.“

Respekt gegenüber dem Alter und der Position des anderen

Auch intern sind die Umgangsformen eher klassisch. „Von diesem amerikanischen System, in dem jeder per Du ist, davon halte ich nichts. Mir käme es komisch vor, wenn der Lehrling im zweiten Lehrjahr sagt: Hallo Edmund, wie geht es dir heute. Das Sie zeugt auch vom Respekt gegenüber dem Alter und der Position des anderen.“ Natürlich kennt er Hotels, die das anders handhaben. Dort ist Dornhöfer auch schon unverhofft geduzt worden. War das respektlos? „Respektlos will ich nicht sagen, aber es muss dann schon die ganze Atmosphäre des Hauses widerspiegeln“, sagt er.

Hotelier Edmund Dornhöfer - hier bei einer Preisverleihung - kann sich das generelle Du gegenüber Gästen nicht vorstellen. .
Hotelier Edmund Dornhöfer - hier bei einer Preisverleihung - kann sich das generelle Du gegenüber Gästen nicht vorstellen. . © BrauerPhotos / J.Reetz | BrauerPhotos / J.Reetz

Anderes Haus, gleiche Meinung. „Gäste werden weiterhin gesiezt! Eine Änderung ist nicht geplant und auch bislang nicht ernsthaft in Erwägung gezogen worden“, heißt es vom 5-Sterne-Haus Deimann in Schmallenberg. „In weiten Teilen würden unsere Gäste das bestimmt als respektlos und anmaßend empfinden.“

Aus der Immobilienbranche ins Nähgeschäft - und immer per Du

Der Krawattenzwang ist abgeschafft, viel lockerer wird es dann aber nicht bei den Sparkassen Hagen/Herdecke. „Im Umgang mit dem Kunden ist das Du nicht denkbar. Wir sind der Dienstleister. Von uns wird eine absolut seriöse und kompetente Arbeit erwartet“, sagt Sprecher Thorsten Irmer. Zuletzt habe man zumindest festgelegt, dass 13- bis 17-Jährige, die einen Brief bekommen, geduzt werden sollen. Weitere Regelungen gebe es nicht, auch nicht intern.

Dominique Köster: In ihrem Stoffladen wird geduzt.
Dominique Köster: In ihrem Stoffladen wird geduzt. © WP | privat

Dominique Köster, die alle nur Dodo nennen, war beruflich viel auf Reisen: Hat in Harvard studiert, arbeitete im internationalen Immobilienwesen in Boston, Shanghai, den Niederlanden, London, Hongkong. Auch wegen der Familie veränderte sie sich: Seit 2018 hat sie einen Laden in Schwelm, in dem sich alles um Stoffe und das Nähen dreht – und in dem geduzt wird. Ein Text an der Eingangstür weist darauf hin.

Direkt auf einer anderen Beziehungsebene

„Ich war viel in der Welt unterwegs“, sagt sie, „in vielen Ländern ist es gang und gäbe, dass man sich duzt. Man ist automatisch auf einer anderen Beziehungsebene.“ Dodo und das Du – wie kommt’s bei den Kunden an? „Fast alle Leute finden das toll, egal ob jung oder alt.“

Keine negativen Erfahrungen? „Im Schnitt ein bis zwei Kundinnen oder Kunden im Jahr sagen: Das finde ich unmöglich, hier kaufe ich nicht mehr ein.“ Für sie offenbar verschmerzbar. „Das ist eine sehr klassische Sichtweise, die ich respektiere. Wenn das gewünscht wird, sieze ich natürlich auch. Nachvollziehen kann ich es aber nicht. Ich habe nicht mehr oder weniger Respekt vor einem Menschen, ob ich Du oder Sie sage.“

>> Pro und Contra: Ist das generell Du ok?

Pro: Wertschätzung entscheidet

Martin Korte
Martin Korte © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Neulich rief mir die Fachkraft im Restaurant zu: „Lass es dir schmecken.“ Kennen wir uns? – dachte ich, sagte aber nichts. Denn die Dame behandelte mich und die anderen Gäste freundlich und mit Respekt. Und genau darauf kommt es an: auf die Wertschätzung des Gegenüber. Also auf eine Tugend, die aus einer persönlichen Grundeinstellungen heraus entstehen sollte, ja, auch aus der Erziehung und Sozialisierung heraus. Die Form der Anrede ist da eher zweitrangig. Mit Respekt kann ich Menschen auch begegnen, wenn ich sie duze – und respektlos, wenn ich sie sieze.

Das Du schafft Nähe. Was nicht alle wollen. Respekt bedeutet deshalb auch: Wenn Menschen das Du nicht möchten, dann bleibt es beim Sie. Aber von freundlichen Zeitgenossen lasse ich mich gerne duzen. Martin Korte

Contra: Ein Sie bietet auch Sicherheit

Michael Koch.
Michael Koch. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Bei uns im Verlag, der Funke-Mediengruppe, wird intern geduzt. Das ist für mich völlig o.k.. Hierarchien abbauen, auf Augenhöhe kommunizieren, ist das Ziel. Auch wenn der Verlag groß ist, sind wir ein Team, da geht die Strategie auf. Aber generell? Auch im Kontakt mit unserer Leserinnen und Lesern, sprich: mit unserer Kundschaft? Nein. Klar, wir tun das auch, zum Beispiel auf unserer Facebook-Seiten, in diesem Umfeld ist dies Standard. Aber ansonsten müssen wir uns nicht mutwillig von Umgangsformen trennen, die unsere Kultur schon so lange bestimmen. Ein Sie ist nicht per se eine Hürde, es kann auch Sicherheit bieten. Es gibt Menschen, die ich seit Jahrzehnten kenne, mit denen ich sehr vertrauensvolle Gespräche führe, denen ich mich manchmal sogar fast freundschaftlich verbunden fühle – und die ich trotzdem sieze. Ich freue mich über jedes ungezwungene Du. Aber nicht unter Druck. Michael Koch