Neheim. Viele Frauen stehen auf gemachte Fingernägel. Erlaubt ist mittlerweile, was gefällt – und was bei Instagram kursiert. Zu Besuch im Nagelstudio.
Heike Esser sitzt an ihrem Arbeitsplatz und lässt ihre Hand den Tisch hinabgleiten. „Blattgold ist unterste Schublade“, sagt sie und lacht, weil sie weiß, dass das hübsch doppeldeutig ist. Und weil sie weiß, dass die Kundin, die vor ihr sitzt, den Spaß versteht. Mit einem pinzettenartigen Instrument holt Heike Esser die hochkarätigen Miniblättchen aus dem Glaspöttchen und drapiert sie millimetergenau kunstvoll auf den Fingernägeln einer jungen Dame. Leopardenmuster, Gold auf Rosa. „Geil“, sagt die Kundin inbrünstig, als sie das Ergebnis sieht.
Ob Krallen, Steinchen oder Sternchen: Erlaubt ist an den Nägeln, was gefällt
Geschmäcker sind verschieden. Das gilt in allen Bereichen, ist aber immer öfter und deutlicher auch auf gemachten Fingernägeln sichtbar. Es gibt sie in krallenartig lang, in kurz und natürlich, farbenfroh lackiert, detailverliebt bemalt, mit Steinen, Sternchen und sonstigen Glamour-Accessoires versehen. Zu extravagant? Zu sehr Tussie-Look? Ist davon jetzt was unterste Schublade? „Heutzutage ist sowieso alles erlaubt“, sagt Heike Esser, „jeder macht, was ihm oder ihr gefällt.“
Seit fast 30 Jahren ist sie Nail-Stylistin, seit 23 Jahren hat sie ihren Laden „Hand & Nails“ nahe der Neheimer Innenstadt. Als sie anfing, hatte sie das dritte Studio im Ort, mittlerweile gibt es laut Internetsuche fast ein Dutzend in direkter Nachbarschaft: Brigitte Nagelstudio, Arnsberger Nagelstudio, Nails American Style, Venus Nails, Nagelstudio Stefanie Koch, One Nails, Nagelstudio Ten Nails, Galina Magic Nails.
SIHK: „Nagelstudios schießen in den vergangenen Jahren aus dem Boden“
Die Zunahme in Neheim ist kein Einzelfall. „Nagelstudios schießen in den vergangenen Jahren aus dem Boden“, sagt Kirsten Deggim, Branchenkoordinatorin Handel- und Dienstleistung bei der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer (SIHK) Hagen. In deren Bezirk, zu dem auch der südliche Ennepe-Ruhr-Kreis und der Märkische Kreis gehört, gibt es 256 angemeldete Studios. Im gesamten Hochsauerlandkreis, im Kreis Siegen-Wittgenstein und im Kreis Olpe sind es zusammen 323 – dreimal mehr als Bäckereien. Unser täglich Rot gib’ uns heute!
„Ich hatte schon alles – außer Rot. Das ist mir zu...“ Die Frau, die jetzt rosafarbene Leopardennägel trägt, heißt Nadine, 34 Jahre alt, Schalke-Fan, Assistentin der Geschäftsführung. Sie spricht den Satz nicht zuende, weil sie das richtige Wort nicht findet.
Was früher nur verruchten Damen vorbehalten war, ist nun Trend
Rot gilt immer noch als der Inbegriff der Weiblichkeit. Vor 100 Jahren, so steht es in geschichtlichen Abhandlungen zum Nagellack, sei die Farbe nur verruchten Damen vorbehalten gewesen. Lange vorbei. Im Frühjahr 2023 ist Rot in allen Variationen im Trend, sagt Heike Esser. Weitere Trends: Micro-French-Nails, natürliche Nägel mit einer nur feinen weißen Spitze, und „Clean & Simple“-Nails: fast transparente Nägel mit einem Hauch von Farbe.
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Nadine findet jedenfalls, dass anderen das Rot stehe, ihr aber nicht. Bei der Arbeit ist stets schwarze Oberbekleidung erwünscht. Aber die Nägel bleiben bunt. Eine Mikrogestaltungfläche. Gekommen war sie mit „Karnevalsnägeln“, wie sie sagt: Florale Muster in Pink und Blau, die zur Verkleidung als Blumenmädchen passten.
Alle drei Wochen neue Nägel – immer passend zur nächsten Veranstaltung
Alle drei, vier Wochen lässt sie die Nägel neu machen, immer passend zu anstehenden Veranstaltungen wie Halloween, Weihnachten, Geburtstagen oder Hochzeiten. „Im Büro wissen ja alle, dass ich mir heute die Nägel machen lasse. Da muss ich morgen erstmal zeigen, was es geworden ist. Ich präsentiere das dann schon stolz“, sagt sie.
Natürlich habe sich der Job verändert, sagt Heike Esser, die Nagelkünstlerin auf der anderen Seite des Tisches. „Früher war es Luxus, sich die Nägel machen zu lassen. Das kostete 150 Mark“, sagt sie. Heute etwa 50 Euro. Die vielen neuen Studios, die auf den Markt drängten, hätten etwas mit den Preisen gemacht - und manchmal auch mit der Qualität. „Die Branche ist schwer einzuschätzen“, sagt Heike Esser. Mehrmalige Anfragen dieser Redaktion beim Verband der Nagel Designer Deutschland (VNDD) blieben unbeantwortet.
Nagelstudio eröffnen? Keine Nachweise und Qualifikationen nötig
Fakt ist: Fast jeder kann ein reines Nagelstudio eröffnen und sich Nageldesigner nennen – spezielle Nachweise oder Qualifikationen sind nach Auskunft der SIHK nicht nötig. Welche Materialien von wem verwendet werden, unterliegt auch kaum einer Kontrolle, sagt Esser. „Aus manchen Studios kommt einem der beißende Geruch von Säure schon entgegen“, sagt sie. Das sei nicht unbedingt ein gutes Zeichen.
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Und trotzdem finden offenbar alle Studios ihre Kunden. „Viele junge Frauen sehen irgendwelche Influencerinnen bei Instagram, halten einem ein Foto von deren Fingernägeln unter die Nase und sagen: So hätte ich das auch gern“, sagt Esser. Bei ihr sei das aber eher eine Seltenheit, weil ihre Kundinnen eher den klassischen Stil bevorzugten. Trotzdem hat sie alles da, was man braucht, wenn es etwas mehr sein darf: Steinchen und Blattgold, magnetische Lacke, unzählige Farben. Ihre älteste Kundin ist über 80, die jüngste 16. Auf Wunsch hat sie auch schon schwarz-gelbe BVB-Nägel gestaltet. „Ein gutes Nagelstudio macht typgerechte Nägel“, sagt Heike Esser.
Nicht einfach nur Nagellack, sondern Geheime Illusionen im Paradies
Die nächste Kundin ist eher der klassische Typ. Monika (57) beugt sich über die Farbpalette. Das helle Rot, das es noch für den Urlaub in der Sonne sein durfte, muss runter. Heike Esser fräst weg, was weg muss. Rot soll es wieder werden, vielleicht einen Ton dunkler? Aber welches Rot genau? Monika kann sich kaum entscheiden, wonach ihr ist: Red Illusion? Red Paradise? Yes my Love? Sie nimmt: Secret Red. Nicht einfach nur Nagellack, sondern gleich geheime Illusionen im Paradies.
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Ihre Nägel seien immer schon „so fisselig“ gewesen, so nennt sie das. Sie habe spezielle Vitamine zu sich genommen, damit das besser wird. Wurde es nicht. Deswegen kommt sie her, weil sie genug davon hatte, ihre Hände eher verstecken als zeigen zu wollen. Ihre Hand steckt in einem Gerät, in dem blaues LED-Licht die Nägel trocknet und härtet. Früher dauerte das zwei Minuten, mittlerweile nur noch 10 Sekunden.
Monika zieht die Hand aus dem Gerät. Der Lack wird jetzt noch poliert, wie beim Auto. Das Rot glänzt. Sie streckt die Hand weg und spreizt die Finger. Ihr gefällt, was sie sieht. „Ich liebe das“, sagt sie und lächelt, „so frische Nägel“.
<<< HINTERGRUND >>>
Das Thema Beauty nimmt in Deutschland immer größere Bedeutung ein. Die Anzahl der als Handwerk registrierten Kosmetikinstitute (rund 67.000) sei in den letzten zehn Jahren um ca. 46 Prozent gewachsen, wie im Rahmen einer Studie im Auftrag des „Verband Cosmetic Professional (VCP)“ und der Messe Düsseldorf mitgeteilt wurde. Die Branche glaubt demnach wieder auf Belebung nach der Corona-Krise.