Lüdenscheid. Von der Rahmedetalbrücke lenkt er sich singend und hüpfend auf der Bühne ab. Wie Sebastian Wagemeyer ein Desaster managt. Ein Porträt.

Dass er gleich etwas tut, das eigentlich untersagt ist, erfährt Sebastian Wagemeyer in dieser Sekunde. Fußball-Stadtmeisterschaften der Sieben- bis Neunjährigen in Lüdenscheid. Siegerehrung durch den Bürgermeister. Donnerstag, 29. Dezember 2022. Letzter Termin des Jahres für den SPD-Politiker. Letzter Termin eines völlig verrückten Jahres. Siegerehrungen sind in dem Alter der Kinder aus pädagogischen Gründen unerwünscht. Ein Mann mit einer Binde am Arm, auf der Ordner steht, meint das. „Dann ist ja gut, dass ich die Siegerehrung übernehme“, sagt Wagemeyer ironisch. „Wenn die Kinder beigebracht bekommen, dass das Leben immer nur schön ist, dann hilft das auch nicht“, antwortet der Mann mit der Binde.

Verzweiflung der Menschen nach der Sperrung der Talbrücke Rahmede

Das Leben hat die Lüdenscheider das längst gelehrt – und den Bürgermeister auch. In seiner Stadt steht die marode Talbrücke Rahmede, wegen der die A 45 gesperrt werden musste. Durch seine Stadt quält sich der Verkehr. In seiner Stadt leben die Menschen, die der Verzweiflung nah sind, weil sie nicht mehr schlafen können oder kein Geld mehr mit ihren Läden verdienen.

+++ Das Haus unter der Brücke: So kurios geht es mit der Familie weiter +++

Wagemeyer, 46 Jahre alt, Lehrer, verheiratet, drei Kinder, ist erst seit 2020 Bürgermeister. Kein über alle Maßen erfahrener Kommunalpolitiker. Einer, der plötzlich eine viel größere Aufgabe hat, als nur Bürgermeister einer 70.000-Einwohner-Stadt zu sein, was anspruchsvoll genug ist. Einer, den am Jahresende ein Reporter einer der wichtigsten überregionalen Zeitungen Frankreichs (Liberation) zum Interview treffen will, weil die Franzosen noch immer glauben, dass die Deutschen alles können – aber feststellen müssen, dass Bahnhöfe, Straßen und Brücken offenbar nicht dazu gehören.

Plötzlich eine viel größere Rolle als gedacht

Wie meistert einer, dem das Schicksal plötzlich eine viel größere Rolle als gedacht zuspielt, ein solches Jahr? Einer, der seit der Sperrung der Brücke am 2. Dezember 2021 im Fokus steht und von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) zum Bürgerbeauftragten im Rahmen des Neubaus ernannt wurde: eine Art Kümmerer und Vermittler zwischen den Welten.

Der Reporter aus Frankreich ist gerade weg, Frühstück hatte Wagemeyer bis zum Mittag noch nicht. Er bietet Kekse an. „Gefühlt ist die Brücke schon viel länger als gut ein Jahr gesperrt.“ In der Bürgersprechstunde ereignete sich einer der schlimmsten Momente des Jahres. „Da saß ein Mann vor mir, der geschäftlich betroffen war, der um seine mühsam aufgebaute Existenz fürchtete. Er weinte – und ich hatte keine Perspektive für ihn.“ Pause. „Das vergessen Sie nicht.“

„Früh gelernt, mit schwierigen Situationen umzugehen“

Nimmt man das nicht mit nach Hause? „Ich habe früh gelernt, auch mit schwierigen Situationen umzugehen und manches nicht so nah an mich heranzulassen. Das ist ein riesiger Schatz.“ Mit 19 habe er Kinderfreizeiten im Caritasverband geleitet. Drei Wochen wegfahren – und Kinder sehen, die dafür einen Pulli und eine Unterhose von den Eltern mitbekommen.

+++ Die Suche nach einer Firma für den Neubau hat begonnen +++

Gerade im Frühjahr war es hart mit der Brücke, als die Lage neu war, als die Aufgaben noch nicht klar verteilt waren. 14-Stunden-Tage, plus Wochenendtermine. „Das ist belastend, natürlich. Sie müssen sich einen Ausgleich schaffen, um das auszuhalten, um nicht krank zu werden.“

Ein Bürgermeister, der auf der Bühne schreit und springt

Hinter ihm auf einem Schrank sind sieben Plektren des Künstlers Dallas Green ausgestellt, gerahmt hinter Glas. Vier Poster der Hip-Hop-Gruppe Beastie Boys hängen an der Wand. Wagemeyer spielt Gitarre. Neulich erst trat er auf dem Lüdenscheider Stadtfest auf, mit Liedern u.a. von „Rage Against The Machine“, einer Rockband, die Kapitalismus, Imperialismus und Faschismus anprangert. Wagemeyer, bis 2020 Schulleiter am Zeppelin-Gymnasium der Stadt, sagt, die Mitglieder des Schützenvereins, die am Bierwagen gegenüber Zapfdienst hatten, hätten sparsam geschaut.

+++ Tränen beim Ministerbesuch und ein vergiftetes Geschenk +++

„Die hatten nicht erwartet, mich schreiend und hüpfend auf der Bühne zu sehen. Man stellt sich Bürgermeister und Schulleiter vermutlich oft so vor, dass sie abends im Wohnzimmer auf der Couch sitzen, Rotwein trinken und Beethoven hören. Aber so ist es ja nicht.“

Immer Musik zur Entspannung: im Büro, im Auto, im Bett

Er sagt, dass er Musik hört, wann immer es geht: Im Auto. Im Büro. Im Bett zum Einschlafen. Rap, Rock, Punk. „Das entspannt mich“, sagt er und zückt sein Handy, öffnet in der Musik-App die Statistik-Funktion: „45.307 Minuten Musik in 2022“, umgerechnet 30 Tage am Stück. Mehr als 90 Prozent der anderen Nutzer, behauptet die App.

Ist Musik sein Ventil? Volle Lautstärke gegen den Ärger, der so anfällt? So schnell, sagt er, könne man ihn nicht verärgern, aber wenn, dann richtig. „Diese parteipolitischen Scharmützel ärgern mich maßlos. Das Problem mit der Brücke ist groß genug, da müssen wir uns nicht auch noch das Leben gegenseitig schwer machen. Das ist anstrengend und ermüdend.“ Kindergarten nennt er das. Einmal in diesem Jahr schien er als Bürgerbeauftragter fast hinwerfen zu wollen.

Er will nicht nach Berlin, sondern Lüdenscheid voranbringen

Wagemeyer war vom Bund im Unklaren darüber gelassen worden, ob der Sprengtermin 18. Dezember eingehalten werden könne, sollte aber gleichzeitig eine Bürgerveranstaltung zum Thema abhalten. Die Großkopferten hatten ihn, so wirkte das, am langen Arm verhungern lassen. „Ich halte meinen Kopf hier für vieles hin. Das war mir bewusst und das ist in Ordnung. Aber wenn ich das Gefühl habe, dass ich die Dresche abkriege, die andere verdienen, dann sage ich auch: Bis hierhin und nicht weiter.“

Ans Hinwerfen habe er nie gedacht. Und ans Weiterziehen auch nicht. „Manchmal werde ich gefragt, wann ich denn nach Berlin gehe, weil die ganze Sache ja ein Sprungbrett für mich sei. Ich frage dann: Hast du einen am Helm? Ich habe kein Interesse, was anderes zu machen. Ich will mich für meine Heimatstadt einsetzen.“

Kinder zwischen 1 und 17: „Zu Hause kann ich abschalten“

Das ist so schon schwer genug. Nicht, dass er sich beschwerte, aber eine Familie hat er ja auch noch. Seine Frau, Ingenieurin, geht stundenweise wieder arbeiten, Lenno ist 15 Monate alt, Jano viereinhalb Jahre. Julian, sein Sohn aus erster Ehe, ist 17 und wohnt bei Münster. „Zwischen Babyalter und Pubertät – das ist schon ein Spannungsfeld“, lacht Wagemeyer: „Aber zu Hause kann ich abschalten.“

Das ist die A45-Talbrücke Rahmede

Seit 2. Dezember 2021 ist die Talbrücke Rahmede der A45 dauerhaft gesperrt. Eine Reparatur ist nicht möglich. Die Brücke soll gesprengt werden.
Seit 2. Dezember 2021 ist die Talbrücke Rahmede der A45 dauerhaft gesperrt. Eine Reparatur ist nicht möglich. Die Brücke soll gesprengt werden. © www.blossey.eu | Hans Blossey
Seit 2. Dezember 2021 ist die Talbrücke Rahmede der A45 dauerhaft gesperrt. Eine Reparatur ist nicht möglich. Die Brücke soll gesprengt werden. Unterhalb der Brücke, die über das Flüsschen Rahmede führt, stehen Wohnhäuser und Firmengebäude.
Seit 2. Dezember 2021 ist die Talbrücke Rahmede der A45 dauerhaft gesperrt. Eine Reparatur ist nicht möglich. Die Brücke soll gesprengt werden. Unterhalb der Brücke, die über das Flüsschen Rahmede führt, stehen Wohnhäuser und Firmengebäude. © FFS | Ralf Rottmann
Die Rahmedetalbrücke wurde 1965 bis 1968 errichtet. Berechnet worden war sie damals für täglich 25.000 Fahrzeuge. Tatsächlich wurden es in den Jahrzehnten des Betriebs viel mehr...
Die Rahmedetalbrücke wurde 1965 bis 1968 errichtet. Berechnet worden war sie damals für täglich 25.000 Fahrzeuge. Tatsächlich wurden es in den Jahrzehnten des Betriebs viel mehr... © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
...sodass bereits 2014 beschlossen worden war, eine neue Brücke zu bauen. Ende 2021 aber passierte, was nicht geplant war...
...sodass bereits 2014 beschlossen worden war, eine neue Brücke zu bauen. Ende 2021 aber passierte, was nicht geplant war... © dpa | Dieter Menne
...die Brücke hält dem Verkehr nicht mehr stand und wurde gesperrt.  Die Sauerlandlinie ist seitdem unterbrochen. Unter der Brücke stehen Häuser - sie müssen weg, weil die Brücke gesprengt werden soll...
...die Brücke hält dem Verkehr nicht mehr stand und wurde gesperrt.  Die Sauerlandlinie ist seitdem unterbrochen. Unter der Brücke stehen Häuser - sie müssen weg, weil die Brücke gesprengt werden soll... © dpa | Dieter Menne
...Schon seit Jahren galten auf der Brücke Verkehrseinschränkungen, etwa ein Tempolimit und ein Überholverbot für Lastwagen, um das Bauwerk zu schonen...
...Schon seit Jahren galten auf der Brücke Verkehrseinschränkungen, etwa ein Tempolimit und ein Überholverbot für Lastwagen, um das Bauwerk zu schonen... © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
...Die Talbrücke Rahmede liegt zwischen den Anschlussstellen Lüdenscheid-Nord und Lüdenscheid auf der A45...
...Die Talbrücke Rahmede liegt zwischen den Anschlussstellen Lüdenscheid-Nord und Lüdenscheid auf der A45... © www.blossey.eu | Hans Blossey
...Ursprünglich war versucht worden, die Brücke so zu verstärken, dass sie doch noch für den Verkehr geöffnet werden kann. Doch das wurde Anfang Januar verworfen...
...Ursprünglich war versucht worden, die Brücke so zu verstärken, dass sie doch noch für den Verkehr geöffnet werden kann. Doch das wurde Anfang Januar verworfen... © www.blossey.eu | Hans Blossey
Die Talbrücke überspannt unter das Tal der Rahmede mit der Landesstraße 530 und ist gut 530 Meter lang.
Die Talbrücke überspannt unter das Tal der Rahmede mit der Landesstraße 530 und ist gut 530 Meter lang. © www.blossey.eu | Hans Blossey
Die Sperrung der Brücke führt zu übervollen Straßen in der Region...
Die Sperrung der Brücke führt zu übervollen Straßen in der Region... © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Marcus Kaufmann vom Restaurant Heerwiese unweit der Rahmeder Autobahnbrücke A 45 hat den Stau im Blick...
Marcus Kaufmann vom Restaurant Heerwiese unweit der Rahmeder Autobahnbrücke A 45 hat den Stau im Blick... © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Langsam fließt der Verkehr, die Straßen im Umfeld der Brücke sind voll. Die Autobahn ist eine wichtige Verkehrsvbindung zwischen Nord und Süd.
Langsam fließt der Verkehr, die Straßen im Umfeld der Brücke sind voll. Die Autobahn ist eine wichtige Verkehrsvbindung zwischen Nord und Süd. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Nichts geht mehr: Die Autobahnbrücke Rahmede darf seit 2. Dezember nicht mehr befahren werden. Für die Region war die Nachricht ein Schock.
Nichts geht mehr: Die Autobahnbrücke Rahmede darf seit 2. Dezember nicht mehr befahren werden. Für die Region war die Nachricht ein Schock. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
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Von den Keksen hat er keinen gegessen. Er muss los zur Siegerehrung beim Turnier. 15 Uhr soll die sein. Abfahrt. Privatwagen, kein Dienstwagen, Kindersitz auf dem Rücksitz. Das Fahrtenbuch führe er nicht, sagt er, da verzichtet er zugunsten der Zeit lieber auf das Geld. Einen Parkplatz an der Halle gibt’s für ihn nicht, er wendet, parkt in einer Nebenstraße. 14.45 Uhr.

Das Handballtraining seiner Frau ist in seinem Kalender rot geblockt

In der Halle riecht es nach Kaffee und kaltem Schweiß. Wagemeyer kauft sich ein Stück Pizza und einen Schokoriegel. „Zehn Kilogramm Gewicht weniger wären auch nicht schlecht“, sagt er. Aber geregelte Mahlzeiten sind kompliziert. Wenn die Prominenz der Politik wegen der Brücke zu Gast in Lüdenscheid sei, dann hätten die immer einen in ihrer Entourage, der fragt: Haben Sie auch genug getrunken, Herr Minister?

+++ Lüdenscheid: Wie viele schlechte Nachrichten verträgt eine Stadt? +++

Sein Kalender sieht aus wie ein Mosaik: gelbe, rosafarbene, blaue Kacheln. Spitzengespräche zur Rahmedetalbrücke sind da hinterlegt, aber auch das, was man als Bürgermeister Lüdenscheids sonst so macht: Ratssitzungen, die Blumenübergabe zum 100. Geburtstag, die Rede zur Eröffnung einer Ausstellung. In Signal-Rot sind die Zeiten geblockt, in denen seine Frau abends ihr Handballtraining hat. Dann ist er – wenn es eben geht – bei den Kindern. „Natürlich kann ich die Kinder ins Bett bringen und mache das auch gern. Aber es dauert eben länger. Erst nach ein paar Tagen hintereinander ist da eine größere Selbstverständlichkeit, zum Beispiel im Urlaub.“

„Es ist nicht immer leicht, allen Rollen gerecht zu werden“

Als Schulleiter nahm er acht Wochen Elternzeit. „Die Kinder“, sagt er, „haben einen Anspruch auf ihren Vater und meine Frau einen Anspruch auf ihren Mann. Es ist nicht immer leicht, allen Rollen gerecht zu werden.“ Andere Länder seien da schon weiter. „Ich bin meiner Frau extrem dankbar, dass sie das alles mitmacht.“

Siegerehrung beim Fußball: Der letzte Termin eines kräftezehrenden Jahres.
Siegerehrung beim Fußball: Der letzte Termin eines kräftezehrenden Jahres. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Der letzte Termin des Jahres zögert sich hinaus. So sei das immer. Wagemeyer lacht. Zwei Stunden steht er nun schon auf der Tribüne und wartet. Er schreibt seiner Frau, dass es später wird, weil er ja heute mal außergewöhnlich früh da sein wollte. Er schreibt seinem ältesten Sohn, der gerade in Lüdenscheid ist, ob er beim Frisör war. Die subtile Frage nach einem Bild, beantwortet der Spross mit einem kargen „Ja.“ Kurz vor 17 Uhr ist das Turnier vorbei. Wagemeyer sagt Nettes über Vereine und Ehrenamt. Verhaltener Applaus. Abschied.

Die Sperrung der Autobahn nennt Wagemeyer eine Katastrophe. Er hofft, dass bald gesprengt werden kann, damit der Neubau starten könne. Das sei ein wichtiges Zeichen für die Bürger und die darbende Wirtschaft. „Angst um die Region habe ich nicht“, sagt er, „aber ich mache mir Sorgen.“ Was ihm Hoffnung gibt? „Hier lebt ein Schlag Mensch“, sagt der gebürtige Lüdenscheider, „der jetzt erst recht anpackt und nicht jammert.“