Lüdenscheid. Job-Abbau bei Kostal, Tod auf der Kirmes, Baby-Leiche im Keller, gesperrte A 45: Lüdenscheid muss viel ertragen. Was das mit den Bürgern macht.
Der süßliche Duft von reifen Erdbeeren zieht vom Obststand durch die Innenstadt. Im Springbrunnen wagt das Wasser fröhliche Hüpfer, die aber doch nur wieder damit enden, dass es träge zurück ins Becken fällt. Ein Bettler spielt „Für Elise“ von Beethoven auf dem Akkordeon. Im Ein-Euro-Shop gegenüber gibt es Badelatschen für drei Euro. „Beschissen“, sagt einer auf die Frage, wie es so geht. Feiner Regen setzt ein. Willkommen in Lüdenscheid, mit etwas mehr als 70.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt im Märkischen Kreis. Der Stadt in Südwestfalen mit den derzeit wohl größten Problemen.
Nach dem tödlichen Kirmes-Schuss: Die Mama aus Olsberg ruft besorgt an
Seit Dezember ist die Rahmedetalbrücke an der A 45 wegen Einsturzgefahr gesperrt: der Verkehr donnert durch die Stadt, ruiniert den Asphalt und die Nerven der Menschen. Auf der Kirmes wird ein unbeteiligter Mann erschossen – einfach so. Im Keller eines Hauses wird eine Baby-Leichegefunden. Die Firma Kostal, einer der größten Arbeitgeber der Region und in Lüdenscheid zu Hause, schließt die Produktion 2024: 800 Arbeitsplätze sind akut in Gefahr.
Wie viele schlechte Nachrichten sind zuviel? Was machen sie mit den Bürgern, die dort leben? Zu Gast in einer gebeutelten Stadt.
Aus der überfüllten Poststation tritt Steffen Beule-Fastenrath. Vor zehn Jahren ist der Lehrer auch der Arbeit wegen nach Lüdenscheid gezogen. Damals schon wurde der Rathaustunnel saniert – bis heute sind die Arbeiten wegen immer neuer Probleme nicht abgeschlossen. Auch so eine Sache.
Lüdenscheid? „Meine Tochter soll an einem anderen Ort aufwachsen“
„Das Gefühl ist derzeit schlecht. Das sind ein paar viele schlechte Nachrichten auf einmal“, sagt der 38-jährige Familienvater. Seine Mama habe neulich aus der Heimat Olsberg im Hochsauerlandkreis angerufen, „um zu fragen, was da in Lüdenscheid los ist“. Das war nach dem tödlichen Schuss auf der Kirmes.
+++ Autobahn-Chefin im Interview: Anwohner könnten Bau der Brücke verzögern +++
„Unser Plan ist mittlerweile, zurückzugehen ins Hochsauerland. Denn ich würde meine Tochter lieber an einem anderen, ländlicheren Ort aufwachsen sehen.“ Behüteter, meint er. Wichtig ist ihm aber: „Es ist ja nicht alles schlecht. Ich nehme unserem Bürgermeister ab, ernstlich besorgt und engagiert zu sein.“ Steffen Beule-Fastenrath schätzt zudem die Arbeit von Willi & Söhne, einem Verein, der sich als Sprachrohr der Kultur- und Unterhaltungsszene in Lüdenscheid bezeichnet.
Julian Schricker (26) arbeitet in einem Sportgeschäft im Stern-Center, der Einkaufspassage der Stadt. Kurze Raucherpause. „Ich habe mich immer sehr wohl gefühlt und Lüdenscheid verteidigt“, sagt er. „Ich wollte immer hier bleiben.“ Vergangenheitsform? Schricker nimmt einen Zug von seiner Zigarette, die zwischen Zeige- und Ringfinger klemmt. „Ich überlege, ob ich irgendwann woanders hinziehe.“
Lüdenscheid oder Ibbenbüren: Argumente schwinden
Konkret ist das bei weitem nicht, aber er merkt, dass ihm die Argumente ausgehen, wenn er mit seiner Partnerin diskutiert, wo ihre Zukunft liegen könnte: Lüdenscheid oder Ibbenbüren, ein Städtchen nahe Münster und Rheine. „Das sind schon andere Städte als Lüdenscheid“, sagt er. „Da oben ist alles gut, da funktioniert alles.“
Andererseits: In Lüdenscheid ist sein Geschäft, seine Familie und die Freunde. Keine Großstadt, aber auch kein Dorf. Schön doch eigentlich, sagt er. „Es ist, wie es ist.“ Und dann etwas entschlossener: „Ich glaube immer noch an die Stadt. Sie muss nur die richtigen Entscheidungen treffen.“
Die fallen in den Aufgabenbereich von Bürgermeister Sebastian Wagemeyer (SPD), dessen Heimat Lüdenscheid ist. „Die letzten Monate haben sicherlich Spuren hinterlassen. Immer neue Negativ-Schlagzeilen machen etwas mit den Menschen“, sagt Wagemeyer und wünscht sich umso mehr eine Jetzt-erst-Recht-Mentalität. „Man kann die Ereignisse nicht umkehren. Man kann sie nur annehmen und damit umgehen.“
Es gibt ja diese Gemeinheit, die man sich über Wolfsburg zuraunt: Was ist das beste dort? Genau, die Zugverbindung nach Berlin. „Mit dem Zug komme ich ja nicht einmal mehr raus aus der Stadt“, ärgert sich Brunhilde Bäcker (70), eine freundliche Frau mit kurzen Haaren und Brille, die auf den Bus wartet. Die Flut vor ziemlich genau einem Jahr hat einen Gleisabschnitt nachhaltig ruiniert. Instandsetzung? Dauert.
Düsterer Blick voraus: „Kostal war nur der Anfang“
„Ich liebe unsere Altstadt“, sagt sie und zieht das „ie“ in die Länge, um ihre Zuneigung klar zu machen. Das altehrwürdige Kopfsteinpflaster wird gerade aus dem Boden gerissen und ersetzt. Das Café „Der kleine Prinz“ sieht gemütlich aus. Gegenüber steht ein Haus mit Schlagläden an den Fenstern und hölzernem Dachstuhl zum Verkauf.
Manches, was Lüdenscheid plagt, ist auch in anderen Städten der Region sichtbar: Leere Kassen und Ladenlokale, eingeschränktes gastronomisches Angebot. Dazu die globale Krisen-Lage: Corona, Krieg, Klima. Bernhard Seel (58) zeichnet kein schönes Bild von der Zukunft. Die Politik habe in vielerlei Hinsicht versagt. „Die Schließung von Kostal ist nur der Anfang. Die Zeiten werden noch schlechter.“
Bezahlbarer Wohnraum für die Familie
Im Märkischen Kreis gebe es viele Firmen und daher auch allerhand Gewerbesteuern. Aber wenn im Gymnasium seines Sohnes neue Farbe auf die Wände soll, dann, sagt er, müssten Eltern das mehr oder weniger in Eigenregie machen. „Wo geht das Geld der Stadt denn hin, frage ich mich.“
Joris Kilb (36) und seine Frau Isabell kennen ihr neues Zuhause nicht anders als im Krisen-Modus. Im vergangenen November sind sie hergezogen, weil es in etwa die Mitte ist zwischen seiner Heimat in Hessen und ihrer in Ostwestfalen. Im Dezember wurde die Brücke gesperrt. „Ich habe nicht so ein negatives Bild von der Stadt“, sagt der junge Familienvater. „Wir wohnen in einem Haus mit Garten, das könnten wir uns in meiner Heimat sicher nicht leisten“, sagt er. Die anderen Nachrichten? Hat er gehört. Ändern aber nichts. „Lüdenscheid hat durchaus etwas zu bieten. Wir haben unsere Entscheidung jedenfalls nicht bereut.“