Hagen. Die Bilder aus der Silvesternacht in der Hagener Alleestraße gingen durch die Republik. Was das mit den Menschen vor Ort macht. Eine Spurensuche.

Der Mann wohnt dort, wo an Silvester die Barrikaden aus Mülleimern und Waschmaschinen auf der Straße brannten. Wo Einsatzkräfte mit Böllern und Raketen beschossen wurden. Wo Bilder entstanden, die deutschlandweit verbreitet wurden und erneut Fragen zum Gelingen von Integration aufwerfen. Alleestraße in Hagen. Ort der Schande? Oder ist alles doch ganz anders? Wer lebt da und wie? Ein Ortsbesuch.

Krankenhaus nach Angriff mit Silvester-Rakete: Verbrennungen zweites Grades

Jogginganzug trägt der Mann, am langen Arm eine fluddrige weiße Plastiktüte mit dem fertigen Mittagessen in Aluschalen. „Ich bin an Silvester von einer Rakete getroffen worden“, sagt er. „Von wo die kam, weiß ich nicht.“ An Neujahr war er deswegen direkt mal im Krankenhaus, Verbrennungen zweiten Grades am Rücken, sagt er.

Seit 2009 wohnt er in der Alleestraße, die sich an Silvester in den zurückliegenden Jahren immer wieder in eine Art rechtsfreien Raum verwandelte oder zumindest von Jugendlichen und jungen Erwachsenen dafür gehalten wurde.

Die Kernfrage lautet: Wer waren die Täter und warum tun sie das?

Von wem genau? Schwierige Frage. Kernfrage irgendwie.

Weil sich ja auch in Berlin ähnliche Szenen abspielten, wollte die CDU die Vornamen der festgenommenen Täter wissen. Es geht der Partei um die Frage, ob es jene mit Migrationshintergrund sind, die die Regeln mit Füßen treten. Im Hagener Fall hat sich die Polizei bereits festgelegt: die Täter waren jung, männlich, soweit bekannt mit Migrationshintergrund. Oberbürgermeister Erik O. Schulz äußerte sich ähnlich.

Der Mann im Jogginganzug klingt resigniert. Einiges habe sich verändert in der Straße. Viele neue Leute sind in den vergangenen Jahren hergezogen. Im Alltag stören ihn vor allem die Schreie und das Gegröle in der Nacht. „Was soll ich sagen? Die Polizei ist machtlos. Wir auch.“ Seinen Namen will er nicht nennen – aus Sorge, dass sein Leben in der Alleestraße dadurch nicht besser wird. „Man weiß ja nie...“

Jeden Tag kommen die Kinder in den Laden, um zu klauen

Die Alleestraße ist 600 Meter lang, Spielstraßen zweigen von ihr ab, am oberen Ende sitzt die Polizeiwache Altenhagen, unweit frisch gestrichene Häuser, Altbauwohnungen. Weiter unten die Hälfte, auf der es zu den Krawallen kam. Dort gibt es den Frisörsalon Side, den türkischen Grill Ömer Baba, mehrere leere Ladenlokale mit halb abgerissenen Gardinen oder gesprungenen Scheiben, drei Kioske.

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„Es ist traurig“, sagt einer der Kiosk-Betreiber, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Man weiß ja nie. „Ich bin selber Ausländer, aber die, die jetzt hier sind...“ Er spricht den Satz nicht zuende. Jeden Tag kämen Kinder, um bei ihm zu klauen. „Aber ich kann auch nicht wegen jedem Lolly oder Kaugummi die Polizei rufen.“

Schlimme Randale? „In diesem Jahr war es noch harmlos“

Ein ungenutzter, verwitterter Kinderwagen lehnt draußen an einem Baum. Manche Türen der Wohnhäuser stehen offen, Klingelschilder sind abgerissen, notdürftig aufgeklebt, handschriftlich beschrieben mit Kuli oder Edding.

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Fotini Michailidou (28) betreibt mit ihrer Schwester ein Café in der Straße, in der sie auch wohnt. „Ich verstehe nicht, warum das jetzt ein so großes Thema ist, weil es in diesem Jahr an Silvester noch harmlos war.“ Vor Corona und dem Böllerverbot sei es viel schlimmer zugegangen in der Straße, Tumulte an jeder Kreuzung auf der Alleestraße, Ausnahmezustand für drei Stunden, nicht nur für 30 Minuten wie dieses Mal, sagt sie.

„Die Randalierer habe ich hier noch nie gesehen“

Wegen des Ladens kenne sie die gesamte Nachbarschaft. Die Straße sei ruhig, die Hilfsbereitschaft groß, die Leute nett. „Die, die randalierten, habe ich hier noch nie gesehen.“ Ihre Söhne sind sechs und vier Jahre alt, an Silvester ließ sie sie nicht wirklich vor die Tür, zu gefährlich. „Die haben die Raketen von links und von rechts geschossen.“ In der Nähe ihres Cafés, in dem sie feierten, habe einer seine Waffe durchgeladen. Das war ihr dann doch entschieden zu viel. „Vielleicht habe ich mich dran gewöhnt oder ich habe einfach weniger Angst als andere“, sagt sie: „Aber ich könnte nirgendwo anders leben als hier.“

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Das Wrack eines Fahrrads liegt auf dem Boden. Das Rollo zur Erdgeschosswohnung ist um 15 Uhr zu dreivierteln heruntergelassen, drinnen ist es dunkel, nur der Fernseher läuft. Beim Nachbarn ist der Gurt des Rollos aus der Wand gebrochen. Aus der zweiten Etage dröhnt mutmaßlich rumänische Musik.

Aus anderen Stadtteilen?

In einer der Abzweigungen der Alleestraße gibt es einen Jugendtreff. Kinder und Jugendliche aus vornehmlich rumänischen, bulgarischen, türkischen und marokkanischen Familien haben hier jeden Wochentag ab 13 Uhr bis in die Abendstunden ein zweites zu Hause: Hausaufgabenbetreuung, Freizeitangebote, Ausflüge, gemeinsames Kochen und Backen.

„Wie das privat ist, können wir nicht beurteilen, aber hier benehmen sich alle und hören auf uns“, sagt eine von zwei Mitarbeiterinnen, die gerade da sind. Beide waren erschrocken von den Silvester-Bildern. Beide hörten sich sofort um. Das waren Jugendliche aus anderen Stadtteilen, die sich hier verabredet haben, sagt die eine. Die andere hat schon im Vorfeld von Silvester Videos gesehen, auf denen Erwachsene aus der Straße Kindern zeigen, wie man Raketen horizontal abschießt.

Dann heißt es: Das waren die Ausländer und die Integration versagt

„Das sind Leute, die längst nicht mehr frei herumlaufen dürften, die sich keinen Ärger mehr mit der Polizei erlauben können und den Jugendlichen Geld geben, damit sie das machen.“ Traurig sei das, weil es ein falsches Bild zeichne. „Wir tun hier alles, damit Integration funktionieren kann. Und dann heißt es, das waren die Ausländer und die Integration versagt. Aber das stimmt nicht.“ Was stimmt: Sie müssten noch mehr Hilfe hier anbieten als sie es derzeit könnten.

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Im türkischen Kulturverein Karadeniz sitzt ein Dutzend Männer bei dampfendem Tee. Manche verfolgen am Fernseher die Partie der türkischen Fußball-Liga, andere spielen Rummikub. Sie sind unter sich, das sei ja das Problem. Seit Jahrzehnten habe man in Deutschland Migrantinnen und Migranten je nach ihrer Herkunft zusammen an einem Ort untergebracht, wodurch sie keine Notwendigkeit gesehen hätten, sich in die deutsche Gesellschaft einzufügen. „Und die Politik macht den gleichen Fehler wieder und wundert sich dann, wenn Probleme auftauchen“, sagt Mehmet Basaran (51). Die Folge seien soziale Brennpunkte wie in Altenhagen.

Alltags-Rassismus ist ein Problem

Um den Tisch bildet sich eine kleine Gruppe und diskutiert. Ein Mann mittleren Alters spricht vom alltäglichen Rassismus – wenn sie etwa Türsteher nicht in Clubs und Diskotheken lassen. Er sei sicherlich deutscher als dieser Türsteher, sagt er. „Seit vielen Jahren habe ich immer Steuern bezahlt. Und wir haben dieses Land sogar mit aufgebaut, schon mein Vater. Und dann komme ich da nicht rein?“ Bei der Arbeit sei nun einer zum Vorarbeiter befördert worden, der jünger sei, weniger Erfahrung habe, aber Deutscher sei.

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„Ich hab hier nie Angst gehabt“, sagt die Frau, die seit 30 Jahren in der Alleestraße wohnt und jetzt ihren Bus kriegen will. „Das Leben hier hat sich in den vergangenen Jahren verändert – zum negativen“, sagt sie. Früher hätten die Jugendlichen noch Respekt gehabt. „Aber das ist ein gesellschaftliches Problem. Das kommt von den Eltern. Wenn die sich nicht kümmern, sind die Kinder auf sich gestellt.“ Bis nachts seien sie auf den Straßen, schrien, lärmten. „Nächstes Jahr ziehe ich hier weg.“

<<< HINTERGRUND >>>

An Silvester hatten Jugendliche Straßenbarrikaden aus Waschmaschinen, Mülltonnen und Sperrmüll in der Alleestraße errichtet und angezündet. Die Polizei wurde von teils Vermummten mit Feuerwerkskörpern angegriffen. Rund 20 Jugendliche sollen für die Eskalation verantwortlich sein. Mehrere Anzeigen und Festnahmen waren die Folge.

Die Polizei erklärte zuletzt, dass es sich bei den in Gewahrsam genommenen, bereits identifizierten Personen um „Deutsche mit Migrationshintergrund“ handele. Schon 2014, 2015 und 2016 war es zu Zwischenfällen gekommen. Hagens Oberbürgermeister Erik O. Schulz wiederholte daher seine Botschaft, dass Hagen allein der Zuwanderung nicht gewachsen sei

In der ZDF-Sendung Markus Lanz sollten die Krawalle am Dienstagabend besprochen werden.