Hagen. Nach den Ausschreitungen an Silvester sind sich Erziehungswissenschaftler und Soziologen sicher: Die Angreifer sind noch erreichbar.
Nach den schweren Silvester-Ausschreitungen stellt sich die Frage, wie es dazu kommen konnte. Der Riss zwischen denen, die die Ursache in einer misslungenen Integrationspolitik sehen und denen, die diese Fälle aus kultureller Sicht bewerten, wächst. Der Soziologe Randall Collins nennt Vorfälle wie in der Silvesternacht „rhythmische Synchronisierung“ und beschreibt sie als ein Katz-und-Maus-Spiel, Hin- und Wegrennen, koordinierter Attacke und schnellem Entkommen. All das begleitet von männlichen Dominanzgesten. Migrationsforscher greift das zu kurz.
Kein neues Phänomen
Für die Professorin Dr. Chantal Munsch von der Universität Siegen ist die Randale von Jugendlichen und jungen Männern wie zu Silvester kein neues Phänomen. Aus wissenschaftlicher Perspektive empfiehlt die Erziehungswissenschaftlerin deshalb einen Blick zurück. Sie erinnert an die Studentenrevolten in den 60er Jahren, die Ausschreitungen der Fußballhooligans in den 80er Jahren, die Corona-Proteste. „Aggressives Verhalten von Gruppen gegen Polizisten und Rettungskräfte hat es immer schon gegeben. Das ist kein migrantisches Phänomen“, so die 50-Jährige. Es basiere vielmehr auf Gruppen, die sich in besonderen Situationen gegenseitig hochschaukelten. Sie warnt vor Pauschalisierung und verweist auf wissenschaftliche Studien zur Gewalt junger Männer, die zu leicht unterschiedlichen Aussagen kämen, jedoch keine starke Überrepräsentation von migrantischen Jugendlichen zeigen.
Ausgrenzung im Ausländeramt
Chantal Munsch kam 1995 nach Deutschland. Sie wuchs in Luxemburg auf und lebte einige Jahre in der Schweiz. In Deutschland hat sie selbst Ausgrenzung erlebt, wie sie berichtet. „Im Ausländeramt.“ Dort hatte sie damals einen Antrag auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis gestellt. Die Frau auf der anderen Seite des Schreibtisches habe sie gefragt, wie lange dieser Aufenthalt in Deutschland denn noch gehen sollte. „Da bekommt man Wut“, sagt Chantal Munsch. „Wut, ausgelöst von nur einer einzigen Person auf einem Amt.“ Aber wenn so eine beiläufige Bemerkung so eine Reaktion auslöse, was mache das dann mit Menschen, die immer wieder auf der Straße, in der Schule oder bei der Arbeit diskriminiert werden? Das sei keine Entschuldigung für die Anwendung von Gewalt, aber es deute darauf hin, wie Frustration sich aufbaut. „Die meisten Menschen, die Alltagsrassismus erleben, stecken es aber weg, auch junge Männer mit Migrationshintergrund“, berichtet die Professorin.
Kulturelle Prägung nicht ausschlaggebend
Für Chantal Munsch ist die Integration junger männlicher Migranten nicht gescheitert. „Dieser Diskurs, taucht immer wieder auf. Früher hieß es Ausländerkriminalität.“ Allgemein erschwere kulturelle Prägung Integration nicht. Vielmehr solle man die Idee einer kulturellen Prägung hinterfragen, weil Menschen einer Nationalität viel zu verschieden sind. Gewaltbereite junge Männer mit Migrationshintergrund seien eine Minderheit. „Die Mehrheit, auch der jungen männlichen Migranten, haben sich friedlich am Silvesterabend verhalten. Von Einzelfällen auf eine ganze Gruppe zu schließen – das macht wissenschaftlich überhaupt keinen Sinn.“
Die Bilder im Kopf
Integration, sagt Chantal Munsch, sei eine Aufgabe beider Seiten. „Wem mit Respekt und Wertschätzung begegnet wird, der gibt sie zurück.“ Es komme immer darauf an, welche Bilder erzeugt werden. Auch bei den Rettungskräften arbeiteten viele Migranten. Diese Bilder fehlten den Randalierern wohl. Manche Migranten fühlten sich ohnmächtig. „Gewalt wird oft dadurch erklärt, dass man sich in dem Moment als wirksam erfährt.“ Das sei wichtig gegenüber dem Gefühl der Ohnmacht. Aber die Mehrheit wende keine Gewalt an.
Soll man die Nationalität nennen?
Die Diskussion, ob die Nationalität von Gewalttätern benannt werden soll, ist nach den Silvester-Ausschreitungen wieder voll entbrannt. Die Erziehungswissenschaftlerin erinnert sich an den Sturm auf den Reichstag im August 2020: „Was sagt uns die Nationalität in diesem Fall? Vielleicht wie wir mit der Vergangenheit umgehen sollen?“ Sie würde die Fragen aus soziologischer Sicht umkehren. Es gehe um Erfahrungen der Gewalttäter und nicht um Herkunft.
Wertschätzung und Anerkennung
Für Chantal Munsch sind die Silvesterrandalierer noch zu erreichen. „Mit Wertschätzung und Anerkennung.“ Viele Studien aus der Kriminologie haben gezeigt, dass mehr Repression nicht hilft. Wichtig sei dabei, Gelegenheiten zu schaffen, um wertgeschätzt zu werden. Die Arbeit der Streetworker sei dabei nicht hoch genug einzuschätzen. „Ein vertrauensvoller Umgang, miteinander reden, damit wurden gute Erfahrungen gemacht.“ Natürlich, so Chantal Munsch, sei nicht jeder Mensch zu erreichen. Aber das persönliche Gespräch sollte gesucht werden. Fragen, wie es ihnen geht, wäre ein guter Start in eine Unterhaltung.
Keine einfachen Lösungen
Chantal Munsch denkt darüber nach, was zum Beispiel die Frage an Migranten, „was hast du Silvester gemacht?“, auslöst. „Solche Diskurse bleiben nicht ohne Wirkung.“ Was jetzt gefordert sei, seien keine einfache Antworten auf komplexe Zusammenhänge. „Einfache Lösungen gibt es hier nicht.“
Blick auf die Hooliganszene
Auch für Dr. Emmanuel Ndahayo, Sozialwissenschaftler an der Universität Siegen, sind Ausschreitungen zu Silvester nichts Neues. „Es ist kein Phänomen, dass an Migranten automatisch gekoppelt ist. Der 48-Jährige verweist unter anderem auch auf die Hooliganszene im Fußball. Für ihn steht bei den Ursachen für die Ausschreitungen nicht das Individuum im Mittelpunkt, sondern das kollektive Handeln innerhalb einer Gruppe. Der Alltagsrassismus und die daraus resultierenden Wut auf die Gesellschaft, seien als Ursache zu kurz gegriffen. „Wir müssen tiefer schauen, sprich: es fehlen Untersuchungen zu den Vorfällen“, so Emmanuel Ndahayo.
Das Zugehörigkeitsgefühl
Integration ist nach Ansicht von Ndahayor nicht gescheitert, „aber sie muss immer wieder neu überdacht werden.“ Die zentralen Fragen, die man sich jetzt stellen müsse, lauteten: „Sehen sich die jungen Migranten selbst als Teil der Gesellschaft? Warum erkennen sie nicht, dass sie Rettungskräfte angreifen, die im Notfall für sie da sind? Wie kann man ihr Zugehörigkeitsgefühl hinsichtlich der Gesamtgesellschaft steigern?“ Es reiche jedenfalls nicht, ein paar Sprachkurse anzubieten. Wertschätzung, Anerkennung, Teilhabe, das sei auch wichtig.
Die Sehnsucht, Sichtbar zu sein
Emmanuel Ndahayo schließt nicht aus, dass die Silvesterrandalierer zeigen wollten, dass sie nicht unsichtbar bleiben wollen. „Es kann sein, dass sie als Teil unserer Gesellschaft sichtbar werden wollten - und dass sie die Gelegenheit dazu genutzt haben.“ Die Ereignisse in der Silvesternacht müssten aber genauer untersucht werden.
Ein Runder Tisch
Für Emmanuel Ndahayo spielt die Herkunft, die Nationalität der Silvesterrandalierer nicht eine so große Rolle. „Stattdessen sollte die Lebenssituation dieser Menschen beleuchtet werden.“ Die Forderung der Gewerkschaft der Polizei nach einem Runden Tisch mit Wissenschaftlern, Sozialarbeitern, Pädagogen, Kriminalisten findet der 48-Jährige einen guten Ansatz.
Worauf es ankommt
Ndahayo, der in Ruanda geboren wurde und wie er sagt, vor 19 Jahren in Deutschland seine Menschenwürde zurückerlangt hat, kennt die Situation als Flüchtling. „Ich war selbst einer.“ Diskriminierung ist ihm nicht fremd. Zurückgezogen aus der Gesellschaft, das habe er sich nie. Akzeptanz, das müsse von beiden Seiten kommen. „Anerkennung auf der einen Seite und der Wille, sich integrieren zu wollen auf der anderen, darauf komme es an.“
Soziale Brennpunkte
Hakan Severcan (53) ist Vorsitzender des Integrationsrates in Hagen. Er kritisiert die nach seiner Ansicht vorschnelle Berichterstattung in den Medien, in denen hauptsächlich Migranten als Silvesterrandalierer genannt worden seien. „Ja, es waren mehr als 50 Prozent mit Migrationshintergrund, aber es waren auch viele Deutsche dabei.“ Zahlen, Daten und Fakten lagen noch nicht gesichert vor, schon habe es eine Vorverurteilung gegeben. Das habe den Menschen mit Migrationshintergrund allgemein geschadet. „Nur die Nationalität zu benennen, greift dabei zu kurz.“ Der korrekte Ansatz sei, zu schauen, woher die Randalierer kamen. „Nämlich aus sozialen Brennpunkten, aus Schichten ohne Perspektive, aus großen Städten, wo junge Migranten fast 50 Prozent der Einwohner stellen. Wie sehen deren Lebensverhältnisse aus? Diese Frage muss gestellt werden.“
Traumatische Erlebnisse von Flüchtlingen
Für Hakan Severcan muss das soziale Gefälle in den Mittelpunkt gerückt werden. Auch die Gruppendynamik spiele eine Rolle: „Drei preschen vor, die anderen hinterher.“ Wer nicht mitmacht, fühlt sich, als sei er außerhalb der Gruppe: als Außenseiter.“ Die meisten wüssten allerdings, dass es falsch war, Rettungskräfte zu attackieren. „Viele Flüchtlinge, die unter den Randalierern waren, haben Traumatisches erlebt“, berichtet Hakan Severcan. Das entschuldige nichts, aber auch das müsse berücksichtigt werden. „Ich hoffe jedenfalls, dass die Vorfälle in der Silvesternacht die Gesellschaft nicht weiter spalten.“