Hagen. Ist ein Stromausfall Fiktion oder echte Gefahr? Wie ein Experte und die Energiedienstleister der Region die Lage vor dem Winter beurteilen.
Wer geschäftstüchtig ist, der kann mit der derzeitigen Lage gutes Geld machen. Im Discounter gab es zuletzt einen Stromerzeuger zu kaufen: 429 Euro. Das Internetversandhaus bietet gleich ganze Blackout-Pakete, also ein Notfall-Set mit u.a. Gaskocher und Topf, Taschenlampe, Faltkanister, Powerbank und Kurbelradio. Kostenpunkt: 299 Euro.
Nicht erst seitdem der Chef des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe jüngst Stromabschaltungen für Januar und Februar als wahrscheinlich taxierte, herrscht erhöhte Sorge. Kann das wirklich passieren? Wenn ja: Wo und wann am ehesten? Und was passiert dann? Antworten für die Region von Professor Robert Bach, Dozent für Elektrische Energietechnik an der Fachhochschule Südwestfalen, sowie den beiden großen Energiedienstleistern Enervie Vernetzt und Westenergie AG.
Wie funktioniert unser Stromnetz im Normalfall?
Als die Menschen feststellten, dass man mit dem Dampf von erhitztem Wasser eine Turbine antreiben kann, die wiederum über einen Generator Strom erzeugt, entstanden Kraftwerke. „In den Anfängen der Stromversorgung hat man den dort entstandenen Strom ausschließlich in der näheren Umgebung verbraucht“, erklärt Robert Bach. Erst über die Hochspannungsleitungen konnte er über größere Distanzen „transportiert“ werden.
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„Regionalität spielt aber immer noch eine große Rolle“, sagt Bach. Heißt: Idealerweise wird der Strom nahe des Erzeugers verbraucht. Die Kohlekraftwerke im Ruhrgebiet (z.B. Lünen und Datteln) sind ein entscheidender Lieferant für Westfalen, aber auch die Gas- und Dampfturbinenanlage in Herdecke oder die Pumpspeicherwerke in Herdecke und Finnentrop. „Fällt eines davon aus, geht bei den Bürgern in Südwestfalen trotzdem noch das Licht an“, so Bach. Denn: Die Energie kann dann schnell von anderer Stelle eingespeist werden.
Wie wird der Strom hergestellt?
Es gibt drei Kraftwerkstypen: Die Grundlastkraftwerke (Kernkraft, Braunkohle) sorgen zumeist 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche für Strom. Bei Bedarfen darüber hinaus werden Mittellastkraftwerke (z.B. Steinkohle) hinzugeschaltet. Belastungsspitzen werden über Gasturbinen oder Pumpspeicherkraftwerke (Beispiel: Koeppchenwerk am Hengsteysee in Herdecke) gedeckt.
Wann brauchen wir den Strom?
Die Versorger wissen, wann Energie benötigt wird: u.a. vormittags gegen 10 Uhr und nachmittags gegen 15, 16 Uhr gibt es Belastungsspitzen, dazwischen wird es im Bereich der Haushaltskunden ruhiger, nachts herrscht Entspannung. Bei der Industrie sieht es anders aus. „Das ist alles gut eingespielt – zumindest bis heute“, sagt Bach. „Starke Abweichungen von diesen geplanten Verbräuchen können dazu führen, dass das Netz unter Druck gerät.“
Was passiert bei Zwischenfällen im Stromnetz?
Das Stromnetz ist in viele kleine Bilanzkreise und wenige größere Regelzonen aufgeteilt, die stets auf eine grundlegende Frage hin überwacht werden: Wird genau so viel Energie produziert wie verbraucht wird? Nur dann läuft das System stabil. In etwa so wie ein Wassereimer, in den Wasser läuft, der aber nicht leer-, aber auch nicht überlaufen darf. Von Menschenhand wird der Prozess kontrolliert. In Arnsberg im Hochsauerlandkreis gibt es eine übergeordnete Schaltzentrale. „Man muss sich das ein bisschen vorstellen wie bei Fluglotsen, die alle Flugbewegungen überwachen und sofort eingreifen, wenn erforderlich“, erklärt Bach.
Wie wird wo bei Zwischenfällen reagiert?
Wenn mehr oder weniger Leistung abgerufen wird als zur Verfügung steht, gibt es unterschiedliche Mechanismen, die greifen. „Das Zuschalten von extra dafür vorgesehener Reserveleistung ist eine von vier Möglichkeiten, auf das Ungleichgewicht zu reagieren“, sagt Bach. Nachteil: Die Kosten sind sehr hoch. Reicht das nicht, „kann es kritisch werden“. Ist das Ungleichgewicht nach 15 Minuten nicht behoben, müssen Kraftwerke hochgefahren werden. Letzte Maßnahme wäre der Lastabwurf: Teilnetze würden zeitlich und örtlich begrenzt vom Netz genommen.
Wie könnten solche Belastungsspitzen zustande kommen?
Die Westenergie AG, die mit ihrer Tochterfirma Westnetz den Strom u.a. ins östliche Sauerland und in das Siegerland bringt, betont, dass selbst zeitlich und örtlich begrenzte Stromabschaltungen ein sehr unrealistisches Szenario seien.
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„Trotzdem muss sich Deutschland auch im Stromsektor auf Herausforderungen einstellen“, teilt das Essener Unternehmen mit und entwirft ein Beispiel: Etwa 50 Prozent der ca. 40 Millionen Haushalte in Deutschland heizten derzeit mit Gas. Wenn die Hälfte derer an einem kalten Wintertag ein elektrisches Heizgerät mit den üblichen 2000 Watt betrieben, stiege der Verbrauch um 20 Gigawatt. „Dies entspricht einer Steigerung der aktuellen Jahreshöchstlast in Deutschland um ein Viertel, was weder die Stromnetze noch die vorhandenen Kraftwerke leisten könnten.“
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Bach formuliert es so: „Die Sache mit den Heizlüftern ist eine tatsächliche Gefahr. Wenn die gleichzeitig angestellt würden, dann stehen den Verantwortlichen die Schweißperlen auf der Stirn. Denn: Die strukturierte Nachbesserungsmöglichkeiten sind nicht unendlich. Sie vorzuhalten, ist teuer. Diese Reserven werden sogar an der Börse gehandelt.“ Umso wichtiger sei es, der Bevölkerung klar zu machen, „dass Energie ein knappes Gut ist“.
Was ist das Besondere an diesem Winter?
„Die Erzeugerstruktur hat sich dramatisch verändert“, sagt Bach. Wegen des Kohle-Embargos (seit August) wird keine russische Kohle mehr verbrannt. Das müsse anderweitig aufgefangen werden, was aber mit regenerativen Energien wie Sonne und Windkraft nicht verlässlich möglich sei. „Gas wurde deswegen als Brückentechnologie ausgerufen“, sagt Bach. Mit anderen Worten: Das bestehende System befindet sich im Wandel. „Die Netze, die beansprucht werden, werden immer größer. Wir schicken viel mehr Energie über viel größere Distanzen“, sagt Bach.
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Vereinfacht ausgedrückt: Das regionale Netz muss nun nicht mehr nur den Strom aufnehmen, der in der Region gebraucht wird, sondern muss auch den Transitstrom, der zum Beispiel von Nord nach Süd geführt wird, aufnehmen. Oder den regional erzeugten Windstrom vom Windpark Lichtenau bei Marsberg in weiter entfernte Gebiete transportieren.
Begrenzte Übertragungskapazitäten erschweren dies. Das macht den Job, den Strom für alle immer zu gewährleisten, immer anspruchsvoller. „Ich bewundere die Arbeit der Netzbetreiber“, sagt Bach. „Unter diesen Umständen machen die einen großartigen Job.“
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Allerdings wird das System womöglich fehleranfälliger. „Wie es in Zukunft wird, weiß keiner, aber man kann sich an drei Fingern ausrechnen, dass das Risiko für Netzstörungen steigt“, sagt Bach.
Zumal das bestehende Netz in die Jahre gekommen sei: „Die meisten Leitungen stammen aus den 60er, 70 und 80er Jahren. Je mehr diese beansprucht waren und werden, desto höher die Wahrscheinlichkeit für eine Störung.“ Dennoch, und das ist die gute Nachricht, „haben wir in Deutschland mit die wenigsten Störungen mit den kürzesten Ausfallzeiten“, sagt Bach.
Wie wahrscheinlich ist eine Stromunterbrechung in diesem Winter?
Der Chef des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Ralph Tiesler, hatte im Interview mit der „Welt am Sonntag“ für Irritationen gesorgt: „Wir müssen davon ausgehen, dass es im Winter Blackouts geben wird.“ Er bezog dies auf eine „regional und zeitlich begrenzte Unterbrechung der Stromversorgung“. Eine Sprecherin stellte anschließend klar, dass der Chef nur „die grundsätzliche Bedeutung von Vorsorgemaßnahmen hervorzuheben“ versucht hatte.
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Ein Blackout, also ein „plötzlich auftretender, großflächiger und unkontrollierter Stromausfall“ sei „äußerst unwahrscheinlich“, wie die Bundesnetzagentur auf Nachfrage mitteilt. Das Szenario eines geplanten Lastabwurfs sei „sehr unwahrscheinlich“. Eine solche Situation würde sich zudem mit einiger Vorlaufzeit anbahnen, sodass rechtzeitig vorher öffentlich informiert werden könnte.
Ist eine Stromstörung in der Großstadt Hagen wahrscheinlicher als in ländlichen Regionen?
In Ballungszentren werde mehr gebaut als auf dem Land, was die Wahrscheinlichkeit einer Störung durch Beschädigungen erhöhe, teilt Westenergie mit. Das ist aber auch der einzige Unterschied.
„Als erstes Kriterium wird zunächst geprüft, welche Wirkung eine Abschaltung auf die Überlastung hat“, antwortet Verteilnetzbetreiber Enervie Vernetzt (Hagen, Märkischer Kreis, Ennepe-Ruhr-Kreis) auf Nachfrage. Heißt: Bei einer Überlastung des Netzes in Süddeutschland würde Enervie vermutlich nicht zur Lastreduzierung aufgefordert.
Und wenn die Lastreduzierung doch nötig würde? Welche Bürger sitzen dann im Dunkeln? Die Auswahl der abzuschaltenden Teilnetze erfolge „flächendeckend, gleichmäßig, diskriminierungsfrei“. Nach einer „maximal zwei- bis dreistündigen Abschaltung eines Teilnetzes, ist das nächste dran“.
<<< HINTERGRUND >>>
Was das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe bei Stromausfällen rät: Kamin- und Ofenbesitzer sollten für einen Vorrat an Kohle, Briketts oder Holz sorgen. Halten Sie zudem bereit: bestenfalls mehrere Taschenlampen (batterie- oder solarbetrieben), Kerzen und Feuer, Camping- oder Outdoor-Lampen, Campingkocher oder einen Grill für draußen (Balkon oder Garten), Vorrat haltbarer Lebensmittel, die kalt verzehrt werden können, Bargeld, Kurbelradio, geladene Ersatzakkus, solarbetriebene Batterieladegeräte.