Willingen. Willingen im Sauerland will weg vom Partytourismus, doch das ist schwer, wenn schon Alkohol im Zug fließt. Szenen eines ganz normalen Freitags.
Der Tobi ist schon richtig in Stimmung. Augenlider und Zunge werden langsam schwer, aber wer will es ihm verdenken: Die Anreise aus Duisburg ist lang und der Durst groß. Schnapsrunde um 11.09, Pils dazu, Schnaps um 11.17 Uhr, Mojito aus der Dose um 11.22 Uhr. Die Damengesellschaft aus Köln – Prost, Prost - macht Prosecco-Dosen auf. Strohhalm? Strohhalm.
Den nächsten Schnaps trinken sie mit: 11.27 Uhr. Tobi nimmt noch ein Bier aus der großen Tasche, in der die liebevoll in Zeitungspapier eingeschlagenen Halbliterdosen liegen. Zur Kühlung. „Fühl mal, wie kalt“, sagt er. Immer eine neue. So geht das bis zur Ankunft: Freitag, 13.17 Uhr, Bahnhof Willingen. 6000 Einwohner, rund 10.000 Gästebetten rundherum. Und bekannt als: Ballermann im Sauerland. Ist nunmal so – auch wenn es die Gemeinde gern anders hätte. Ein Dilemma.
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„Die Gäste, die bei uns in Willingen Urlaub machen und abends vielleicht auch mal tanzen gehen, die wollen wir gern hier haben. Aber es gibt andere, die herkommen und meinen, dies sei ein rechtsfreier Raum und die sich benehmen, wie die Axt im Walde“, sagt Norbert Lopatta, Tourismus-Chef von Willingen. „Das ist das Thema, von dem wir wegkommen wollen.“ Die zwei Corona-Jahre hätten gezeigt, wie schön es ist, wenn das Gelärme von Trinkgelagen entfällt. Wie weit Willingen bei seinem Imagewandel ist, darüber ist man sich im Ort uneinig. Und eigentlich auch darüber, wie vehement man dem Partytourismus wirklich begegnen will.
Howard Carpendale kommt an diesem Wochenende
Ein paar Meter hinter Tobi kommt auch eine Abordnung älterer Damen vom Niederrhein in Willingen an. Sie tragen bunte Brillen, Strohhütte mit Hula-Bändern und T-Shirts, auf denen steht: „Mädels, egal was passiert: Pegel halten!“ Die Flasche Baileys entsorgen sie vorbildlich im Mülleimer am Bahnhof. „Ich habe das mitbekommen, dass Willingen vom Partytourismus weg will“, sagt eine. „An diesem Wochenende wird das aber nichts“, krakeelt eine andere und lacht laut über ihren Scherz. Howard Carpendale wird am Samstag auftreten beim Schlagerfest.
Die Ausgelassenheit ist ein Geschäftsmodell. Die Gemeinde wirbt für sich ausschließlich als Ort für Familien und Aktivurlauber wie Wanderer und Mountainbiker. Die gibt es auch zahlreich, doch am Wochenende gehen sie unter in einem Meer aus Ausgelassenen, Feierwütigen – und grölenden Säufern. Anwohner kennen das. Das Geräusch der herannahenden Rollkoffer kündet schon vom Gräuel des Wochenendes. „Ich bin hier geboren und kenne die Ballermann-Touristen schon immer“, sagt eine Anwohnerin. Wenn sie kein Eigentum hätte, würde sie überlegen wegzuziehen, sagt die Frau, die aus nachvollziehbaren Gründen ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Als Anwohner kriegt man hier nachts kein Auge zu. Die Wochenenden verbringen wir deswegen oft woanders“, sagt sie.
Anwohnerin sagt: „Wir sind wütend und ohnmächtig“
Nahe dem Sauerlandstern, der Bettenburg mit berüchtigtem Partyimage, hat sie ihr Zuhause. „Wenn wir doch mal da sind, dann verbringe ich das Wochenende damit, mein Eigentum zu verteidigen oder zusammenzusuchen.“ Die Betrunkenen urinierten vor der Tür, Blumenkübel würden umgestoßen oder mitgenommen, Wäsche von der Leine geklaut. „Wir sind wütend und ohnmächtig.“ Aber sie weiß auch, dass im Ort viele am Partytourismus verdienen. Gastronomen, Hoteliers, Vermieter von Ferienwohnungen und Taxi-Unternehmern leben von den Menschen, die kommen, trinken, feiern – und auch mal nicht so sehr aufs Geld schauen.
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Man sei – zusammen mit Bürgermeister Thomas Trachte – mit allen im Austausch, sagt Tourismus-Chef Lopatta. Überzeugungsarbeit. „Natürlich gibt es noch die, die von Freitag bis Sonntag doppelte Preise nehmen – und von Montag bis Donnerstag ihr Angebot zurückfahren. Das ist aber kein nachhaltiges Tourismus-Angebot.“ Im Frühjahr ist ein Konzept vorgestellt worden, wie der aussehen könnte. Wichtig sei auch, sagt Lopatta, dass Vermieter ihre Gäste besser erfassen und begleiten sollen. Aber auch das Gegenteil gebe es immer noch: kontaktloses Einchecken in Ferienwohnungen, in denen niemand weiß oder beobachtet, was die Gäste da anstellen.
Auf Siggis Hütte sagt man: „Alle Gäste sollen ihren Platz haben“
Siggis Hütte thront hoch oben über Willingen auf dem Ettelsberg. Dort ist auch im Sommer echtes Apres-Ski-Feeling angesagt. Mittags geht es los, der Laden und das Außengelände sind voll. „Bei uns sind alle Gäste willkommen“, sagt Mitbetreiber Jürgen von der Heide. „Ich kann nicht irgendwelche Gäste ausschließen. Natürlich gibt es manche, die sich nicht ganz so gut benehmen, aber das kann überall passieren, unabhängig vom Partytourismus.“ Er kenne noch die Zeiten, in denen nach dem Winter „die Bürgersteige hochgeklappt wurden“. Da sei es doch schöner, wenn was los sei. „Alle Gäste sollten ihren Platz haben. Wir haben viel zu bieten und leben von der Vielfalt, nicht von der Monotonie.“
Unten im Tal steigt am frühen Abend der Lärmpegel. Die Biergärten sind voll, manche sitzen noch mit Koffer dort. Eine sechsköpfige Gruppe hat es sich auf dem Balkon ihrer Ferienwohnung um ein Fässchen Bier herum gemütlich gemacht. Sie singen „Im Wagen vor mir.“ Die anwesende Dame schreit über die Hauptstraße, weil da auch welche auf dem Balkon sitzen und trinken: „Haaaaaallooo!“
Sicherheitskräfte werden am Abend eingesetzt
Längst ist die Präsenz von Sicherheitskräften in den Abendstunden erhöht worden. „Aber wir sind keine Großstadt, sondern ein Ort mit einem schmalen Budget. Da können wir nicht einfach die Ortspolizei verstärken, ohne dass sie an anderer Stelle fehlt“, sagt Lopatta. Heißt: Es reicht noch nicht, um den Auswüchsen Herr zu werden. „Das schaffen wir auch nicht innerhalb von Wochen, sondern das wird Monate und Jahre dauern.“
Immer neue Menschen kommen am Bahnhof an, tragen silberne oder gelbe Hüte, grüne Brillen, T-Shirts mit Aufschriften wie: „Aperol und ich – wir sind unzertrennlich“. Karneval im Sauerland, jeden Tag am Wochenende. Im Souvenirladen gibt es Metallschilder auf denen steht: „Betreutes Trinken“ oder „Nicht lang schnacken, Kopp in Nacken“. Das Motto haben hier alle verinnerlicht. „Es ist einfach schön“, sagt eine Dame aus Köln, „dass alle hier so fröhlich sind und Lust auf Party haben.“