Hagen. Zerstört der Ukraine-Krieg unser Ideal von Frieden? Vom Pazifisten bis zur Soldatin: Wir haben sechs interessante Menschen befragt.
Friedensgrüße, Ostermärsche – eine pazifistische oder zumindest eine friedliche Grundhaltung ist in den vergangenen Jahrzehnten schon fast so etwas wie Folklore geworden. Doch jetzt ist Krieg. Nein, nicht der erste seit dem Zweiten Weltkrieg, der wieder in Europa stattfindet. Erinnert sei da nur an die brutalen, verlustreichen und zerstörerischen Jugoslawien-Kriege.
Und doch: Dieser menschenverachtende Angriffskrieg auf die Ukraine erschüttert die jahrzehntelange Nachkriegsordnung in Deutschland. Ein grüner Spitzenpolitiker wie Anton Hofreiter, ein Parteilinker, fordert vehement, dass Deutschland schwere Kriegswaffen an die Ukraine liefern soll. Zeitenwende – das ist das Schlagwort. Aber erfasst diese wirklich alle Menschen? Auch die, die sich seit Jahren als Pazifisten engagieren, die, die den christlichen Gedanken der Nächstenliebe predigen? Oder aber Soldaten? Wir haben nachgefragt.
>> DER FRIEDENSAKTIVIST: „Ich habe auch Zweifel“
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Dirk Jakob (59) erinnert sich, wie er in den 80er Jahren auf die Straße ging, um gegen die Nachrüstung der Nato zu demonstrieren. Er verweigerte den Kriegsdienst, ist bis heute überzeugter Pazifist und Friedensaktivist. Seine Haltung muss er stets neu rechtfertigen, auch und gerade vor sich selbst im Hinblick auf die Gräuel des Ukraine-Krieges.„Ich gebe zu, dass die Gemengelage nicht einfach ist, dass ich derzeit fast täglich in Diskussionen damit konfrontiert bin – und sei es nur mit mir selber und meinen Zweifeln, die ich natürlich auch habe“, sagt der Siegerländer: „Aber ich komme immer wieder zu dem Schluss, dass mit weiteren Waffen kein Krieg beendet wird und kein Frieden hergestellt werden kann.“
Den Grund dafür nennt er ebenfalls: Waffen und Krieg führten zu einer Eskalationsspirale.Der Konflikt in der Ukraine führt zu weiteren Konflikten, inneren und äußeren. „Ich kenne genug Menschen, die ich für friedensbewegt halte, die sich als Pazifisten bezeichnen, die ich aber als solche nicht mehr wiedererkenne, weil sie sagen: Die Ukraine muss sich jetzt wehren“, sagt Jakob.
Bis der Krieg ausbrach war er Teil des Aktionsbündnisses Friedensbewegung Südwestfalen in Siegen. Teile der Gruppe, sagt er, hätten sich aber nicht zu einer Verurteilung der russischen Kampfhandlungen durchringen können, sondern hätten die Verfehlungen der Nato betont. Dann, sagt er, „bin ich ausgestiegen und habe mich der Friedensinitiative ,Stoppt den Krieg’ in Siegen angeschlossen. Diese Spaltung von Friedensbewegungen wegen des Ukraine-Krieges sind nach meiner Wahrnehmung keine Seltenheit.“
Aber wie stellt er sich das vor? Wie soll mit friedlichen Mitteln Frieden geschaffen werden. „Es ist total schwer. Und dass das in vielen Fällen nicht gelingt, ist mir klar. Aber es ist das Richtige und es gibt Beispiele: An der russisch-ukrainischen Grenze haben sich Zivilisten vor Panzer und Kriegsfahrzeuge gestellt und ihnen den Weg versperrt. Ob ich diesen Mut hätte, weiß ich nicht. Ob ich die linke Wange hinhalten würde, wenn ich auf die rechte geschlagen würde? Ich weiß es nicht.“ Doch er glaubt an die Freundschaft der Völker der Welt und daran, dass „Gewalt niemals eine Lösung ist“.
>> DIE PFARRERIN: „Lieber Gott, wo bist Du?“
Sie schläft schlecht, wacht nachts auf und schaut auf ihr Handy, ob es etwas Neues vom Ukraine-Krieg gibt. „Ich habe Angst um meine Heimat Lettland“, sagt Sandra Gintere, „wenn Putin nicht gestoppt wird, sind das Baltikum und Polen als nächstes dran.“Sandra Gintere ist noch zu kommunistischen Zeiten in Lettland zum christlichen Glauben gekommen. Seit Dezember 2019 ist die 60-Jährige Pfarrerin der evangelischen Kirchengemeinde in Winterberg, die zum Evangelischen Kirchenkreis Wittgenstein zählt. Der Krieg in Europa erschüttert sie zutiefst: „Es ist mir noch nie so schwergefallen wie in diesen Tagen, die frohe Botschaft zu verkünden, Hoffnung zu vermitteln und die Menschen im Glauben zu stärken“, sagt sie.
Vor dem Krieg hat die Pfarrerin das Buch eines indischen Schriftstellers gelesen, der sich darüber wunderte, dass die Menschen in Europa so viel über Frieden reden. Sein Fazit: „In Europa ist doch Frieden selbstverständlich.“ Dass jetzt ein Krieg mitten in Europa blutige Wahrheit geworden ist, dass Menschen zu Gräueltaten fähig sind, schockiert Sandra Gintere. „Wir befinden uns in einem neuen Zeitalter. Ich kann verstehen, dass Menschen diese Fragen stellen: ,Lieber Gott, wo bist Du? Warum lässt Du Allmächtiger, der die Welt in Deinen Händen hältst, das zu?“Dann erinnert sich die evangelische Pfarrerin an eine Eigenart des christlichen Lebens, wie sie es nennt: „Man muss aushalten, nicht auf alle Fragen eine Antwort zu bekommen. Das ist mein Trost.“
Und Sandra Gintere verweist darauf, dass Gott Jesus Christus hat sterben lassen, um die Sünden dieser Welt, die heillose Situation von Menschen zu überwinden. „Das gibt uns Hoffnung.“Frieden, so sagt Sandra Gintere, ist die Grundvoraussetzung für menschliches Zusammenleben, „wir müssen mehr denn je für den Frieden beten“.
>> DER FRÜHE ZIVI: „Sanktionen besser als Schüsse“
Arno Kuge bezeichnet sich als überzeugten Pazifisten. Nach seinem Zivildienst in Hagen-Haspe 1976 war er bereits im Studium in der Friedensbewegung aktiv. Seine Initialzündung: der Vietnamkrieg. „Er hat – wie jeder Krieg – praktisch nichts bewirkt, nur großes menschliches Leid verursacht.“Der Krieg in der Ukraine muss ihn doch in seinen Grundfesten erschüttern, oder? „Nein“, sagt Kuge, „es hat leider immer Kriege gegeben, so auch in Europa unter Beteiligung von NATO-Staaten in Ex-Jugoslawien. Nehmen Sie den Völkermord in Ruanda, wo ganze Stämme fast ausgerottet wurden. Oder das Massaker von Srebrenica in Bosnien, bei dem mehr als 8000 Menschen ermordet wurden. Ich habe mich gefragt, wie man diese Völkermorde mit pazifistischen Mitteln hätte verhindern können – und keine Antwort gefunden.“ Militärische Mittel sind ungeeignet. Der Hass bleibt und wird durch Militäreinsatz noch größer. Ihn kann man wirksam nur mit friedlichen Mitteln bekämpfen.
Kuge will nicht die Grausamkeiten des Ukraine-Krieges relativieren. „Es geht hier um die Großmacht-Träume eines einzelnen Herrn. Das Auslöschen von Menschenleben durch militärische Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen.“ Der 70-Jährige will sich nicht beirren lassen in seinem pazifistischen Denken: „Abschreckung durch Drohung mit militärischer Gewalt schafft bestenfalls einen Zustand der Abwesenheit von Krieg für eine gewisse Zeit, aber keinen Frieden“.Daher ist Kuge gegen Waffenlieferungen in Kriegs- und Spannungsgebiete und für humanitäre Hilfe. Und: „Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor halte ich grundsätzlich für richtig. Sie sind allemal besser als Schüsse und töten im Allgemeinen nicht.“Jetzt ist Ostern. Kuge möchte die Menschen ermutigen, an Ostermärschen teilzunehmen: „Friedensarbeit in jeder gewaltfreien Form lohnt sich immer.“rh
>> DIE SOLDATIN: „Sorge schwingt immer mit“
Frieden, sagt Sarah Mühlmeister, „ist das oberste Gut. Meine Motivation ist, sich für Frieden einzusetzen.“ Zur Not eben auch durch den Einsatz militärischer Mittel. Sie weiß, dass das wie ein Widerspruch klingt. „Aber wir als internationale Gemeinschaft haben eine Verantwortung gegenüber anderen Staaten.“ Und was ist mit dem Argument der Eskalationsspirale? Wie sollen Waffen für Frieden sorgen? Die Gegenfrage sei grundsätzlich: „Wollen wir zuschauen, wenn – wie in der Ukraine – Unbeteiligte Opfer eines Krieges werden?“Die 30-Jährige – in Siegen stationiert – hat diese Frage schon lange für sich beantwortet. Sie ist seit zehn Jahren bei der Bundeswehr und derzeit Jugend-Offizier. Diese leisten als Referenten zum Beispiel in Schulen einen Beitrag zur politischen Bildung, erklären Aufgaben und Funktion der Bundeswehr.
Frieden sei ein zerbrechliches Konstrukt. „Unsere Einsätze dienen der Kriegsprävention, aber auch der Friedenssicherung. Ich finde, dass man sich dort engagieren muss, wo ein Staat nicht mehr in der Lage ist, seine Bürger zu schützen, sei es zivilgesellschaftlich, diplomatisch, ökonomisch, zur Not aber auch militärisch.“ Auch wenn das heißt, im Falle eines Falles selbst abkommandiert zu werden.„Ganz unabhängig vom Krieg in der Ukraine ist es für mich als Soldatin so, dass ein Einsatz – zum Beispiel in Mali – zum Beruf dazugehört. Jeder, der es noch nicht getan hat, sollte sich spätestens jetzt mit diesem Gedanken auseinandersetzen“, sagt sie. „Niemand geht ohne mit der Wimper zu zucken in solch einen Einsatz. Der persönliche Hintergrund spielt immer eine Rolle: Habe ich Familie, Kinder?“
Sarah Mühlmeister hat keine Kinder, ihr Partner war selbst bei der Bundeswehr. „Meine Lebenssituation ist so stabil, dass ich guten Gewissens gehen könnte. Das würde meine psychische Belastung verringern. Ich habe keine Angst vor einem Auslandseinsatz, Sorge schwingt aber immer mit.“
>> DIE FRIEDENSHELFERIN: „Ein komisches Gefühl im Bauch“
Normalerweise steht Vinitha Sritharan im Tor des FC Fleckenberg/Grafschaft im Sauerland. Derzeit aber ist die 26-Jährige in Ruanda, wo in den 90er-Jahren ein brutaler Bürgerkrieg tobte. Im Rahmen eines einjährigen Freiwilligendienstes arbeitet die Fußballerin in Kigali, der Hauptstadt des ostafrikanischen Landes, für AKWOS.
Das ist eine Organisation, die sich für die Stärkung von Frauen stark macht und Sport und Bildung als Werkzeug einsetzt. Den Krieg in der Ukraine verfolgt sie daher mit großer Distanz – zumindest räumlich. „Über die sozialen Medien bekomme ich einiges mit – und natürlich wenn mir meine Familie was am Telefon erzählt“, sagt die junge Frau mit tamilischen Wurzeln. „Das bewegt mich. Menschen, die nichts damit zu tun haben, müssen unter dem Krieg leiden. Ich finde es krass, dass so etwas in Europa passieren kann. Damit hätte ich niemals gerechnet. Und bei dem Gedanken, dass der Krieg auch nach Deutschland kommen könnte, kriege ich ein ganz komisches Gefühl im Bauch. Aber ich denke, dass es Deutschland soweit nicht kommen lassen wird.“
Der Krieg verändert ihre Sicht auf den Frieden sogar. „Mir ist klar geworden, dass Frieden ein Luxusgut ist. Von heute auf morgen kann es nicht mehr da sein.“ Seit Oktober ist Vinitha Sritharan, die ihren Bachelor in Sportbusiness Management abgeschlossen hat, in Ruanda. Dort, sagt sie, seien die Folgen des Völkermords vor 28 Jahren noch immer spürbar. „Der Frieden wurde zerstört und wird erst nach und nach wieder aufgebaut. Wir versuchen, zum Beispiel durch Sport, diesen Friedensaspekt zu vermitteln.“
>> DAS KRIEGSKIND: „Nicht wie Tiere aufeinander losgehen“
Jahrgang 1939 sei sie, sagt Gertrud Nehls – und eigentlich beantwortet das gleich alle Fragen. Es ist das Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg begann. Die Erinnerungen an damals lassen sie auch heute noch schaudern, einzelne Bilder hat sie vor Augen: das Rennen in den Bunker, das Blinzeln gegen die Helligkeit der Sonne, wenn man wieder heraustrat. „Das sitzt tief“, sagt die Frau, die den Krieg verabscheut.
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Sie ist Friedensaktivistin und Mitglied des Arbeitskreises Nahost. 2017 klagte sie vor dem Finanzgericht Münster, weil sie aus Gewissensgründen einen Teil ihrer Steuern aus 2013 zurückerstattet haben wollte, die für den Verteidigungsetat erhoben worden waren. Als das Gericht bei der Verhandlung die Erfolgsaussichten als gering bewertete, zog die Hagenerin die Klage zurück. Zufrieden war sie trotzdem, weil sie ihre Argumente vorbringen konnte.
„Ich habe früh gelernt, dass wir eine Familie sind und dass wir uns entsprechend verhalten müssen“, sagt die 82-Jährige. „Wir können nicht wie die Tiere aufeinander losgehen, sondern müssen versuchen, reifer zu sein. Dass ich also gegen Waffenlieferungen an die Ukraine bin, versteht sich von selbst.“ Ihre Haltung zum Frieden und zu der Frage, wie man ihn erreicht, bleiben unverändert. Sie würde, sagt sie, anrückende Soldaten zu sich auf einen Tee einladen und ihnen eine Frage stellen: „Haben Sie Kinder? Können Sie denen später mal erklären, was Sie hier gerade tun?“ Manches Leid, sagt sie, hätte sich damals vermeiden lassen, wenn man miteinander hätte sprechen können.
Als Inspiration gelten ihr Menschen, die sich um den Frieden im Nahen Osten verdient machen. Sie war mehrmals vor Ort. „Es ist wichtig, Verständigung herzustellen. Ich habe im Konflikt zwischen Israel und Palästina auf beiden Seiten Menschen kennengelernt, die friedenswillig waren und Erfolge erzielt haben. Das geht einem durch und durch.“