Lange gepflegte Grundsätze angesichts der Schrecken des Ukraine-Kriegs zu überdenken, ist wichtig, sagt Jost Lübben.

Die Motive sind ehrenwert. „Frieden schaffen ohne Waffen“ lautet der Leitsatz der Friedensbewegung seit mehr als 60 Jahren. Ostern ist traditionell die Zeit, um mit dieser Botschaft auf die Straße zu gehen. Der Ukraine-Krieg und die unglaubliche Brutalität, mit der der russische Präsident Wladimir Putin ihn führen lässt, hat alles verändert. Die Katastrophe spielt sich dieses Mal direkt vor unserer Haustür ab.

Wenn offensichtlich wird, wie dünn der Lack der Zivilisation tatsächlich ist, dann beginnt das Nachdenken über vermeintlich eherne Überzeugungen. Wir dürfen dankbar sein für alle, die bereit sind, sich in Frage zu stellen und öffentlich an sich zu zweifeln. Dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock können wir beim Ringen mit ihren politischen Grundüberzeugungen täglich zusehen. Den auf dieser Seite vorgestellten Menschen geht es ähnlich. Es ist ein schmerzhafter Prozess.

Wer gedacht hatte, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vor 30 Jahren der jahrzehntelange Ost-West-Konflikt zu einer Art Ringelreihen Europas mit den Spitzen im Kreml mutieren würde, erlebt nun die bittere Realität. Wer glaubte – und das waren viele –, dass die Bundeswehr nach 1989 im Grunde keine Existenzgrundlage mehr hatte, sieht sich bitter getäuscht. Wer in den unterschiedlichen Regierungen der USA aus Prinzip einen Aggressor sah, muss das eigene Koordinatensystem im Jahr 2022 neu justieren.

Ohne die USA wären keine deutschen Bürger beim Rückzug der westlichen Länder aus Afghanistan heil aus Kabul herausgekommen. Und man stelle sich mit Blick auf die NATO, ganz Europa und die Ukraine nur einmal vor, nicht Joe Biden, sondern Donald Trump säße im Weißen Haus. Der Mann, der Putin ein „Genie“ nennt. Niemals geht es darum, die Verantwortung für eigene Taten der Vergangenheit zu negieren. Das gilt für die USA ebenso wie für Deutschland.

Doch es gehört zu den wesentlichen Erkenntnissen unserer Zeit, dass lange gültige Narrative in Frage gestellt werden müssen. Die Selbstbestimmung anderer Länder und die Freiheit im Inneren gehören zusammen. Beides ist nur möglich, wenn wir bereit sind, dafür einen Preis zu zahlen. Der mag für manche eine Zumutung sein. Jeder darf zweifeln. Denn Zweifel sind die Alternative zur Selbstgewissheit. Nur über ihn gelangen wir zu neuen Perspektiven.