Hagen/Sauerland. Ein extremes halbes Jahr mit dem Coronavirus: Wieviele Tote und Infizierte es in unserer Region gab. Und was bei den Menschen hängen bleibt.
Davor gab es noch Hoffnung. Hoffnung, dass dieses Coronavirus vielleicht doch noch an uns vorbei ziehen würde. Doch spätestens am 27. Januar 2020 war mit dem ersten bestätigten Fall in Bayern klar: Corona ist in Deutschland angekommen. Wie das Virus dann schon bald in unserer Region Einzug gehalten hat und unser Leben so verändert hat, wie wir es uns zu Beginn des Jahres wohl nie hätten erahnen können. Ein Überblick über entscheidende Zahlen und Daten sowie die ganz persönlichen Eindrücke. Ganz unterschiedliche Frauen und Männer aus der Region kommen zu Wort. Und Mitglieder unseres Redaktions-Teams.
1. Der erste Fall im Sauerland
28. Februar: Corona hat das Sauerland erreicht. Bei einem Lehrer an einer Schule in Lüdenscheid wird eine Coronavirus-Infektion festgestellt. In der Folge wird die Mosaikschule geschlossen, der Betroffene und Kontaktpersonen kommen in Quarantäne. Ein bis dahin höchst seltener Begriff, der schon bald zum Alltags-Wortschatz der Menschen gehören wird. Der infizierte Lehrer hatte zuvor in Gangelt im Kreis Heinsberg Karneval gefeiert. Er war also bei der Veranstaltung, die als Ausgangspunkt des Corona-Ausbruchs in Nordrhein-Westfalen gilt. Es dauert nur wenige Tage, bis Mitte März alle Kreise und Großstädte im Regierungsbezirk Arnsberg Corona-Infektionen melden.
2. Die ersten Todesfälle in unserer Region
260 Tote, die an oder mit dem Coronavirus verstorben sind, gibt es inzwischen in den zwölf Landkreisen und kreisfreien Großstädten des Regierungsbezirks zu beklagen. Der erste Fall datiert vom 19. März: 10 Tage nach den ersten beiden Todesfällen in NRW stirbt ein 58-jähriger Mann aus Ennepetal mit einer Corona-Infektion im Klinikum in Schwelm. Am 24. März meldet die Stadt Hagen den ersten Todesfall, am 30. März der Kreis Olpe und am 31. März stirbt im Klinikum in Arnsberg ein 64-jähriger in Schmallenberg. Der erste Corona-Tote im Hochsauerlandkreis.
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3. Warum der Kreis Olpe so extrem betroffen war
500 bestätigte Corona-Infizierte pro 100.000 Einwohner. Mit diesem Wert nimmt der Kreis Olpe eine Spitzenstellung in Nordrhein-Westfalen ein: Lange Zeit gab es nur im Kreis Heinsberg (780), also der Coronavirus-Hochburg in NRW schlechthin, einen höheren Wert. Inzwischen haben die Massen-Infektionen bei Tönnies den Kreis Gütersloh (721) auf Platz 2 gehievt. Vor allem aber auch die bislang 56 Toten im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion (der mit Abstand höchste Wert im gesamten Regierungsbezirk Arnsberg) zeigen, wie sehr Olpe als kleinster Landkreis in NRW betroffen ist.
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Woran liegt das? Der Kreis schaltet zur Beantwortung der Frage auch das NRW-Gesundheitsministerium ein. Die Untersuchung zeigt Ende Juni: Es gab nicht die eine „Superspreader“-Veranstaltung wie im Kreis Heinsberg der Karneval. Stattdessen gab es zu Beginn auffällig viele Fälle, in denen Skiurlauber unabhängig voneinander das Virus ins Sauerland getragen haben. Dass nach den ersten Fällen in Altenheimen zudem intensiver getestet wurde als anderswo, lässt für die Experten den Schluss zu, dass auch mehr (Todes-)Fälle bekannt geworden sind als in anderen Kreisen und Städten. Inzwischen hat sich die Dynamik bei den Corona-Neuinfektionen im Kreis Olpe deutlich reduziert. Es ist einer der niedrigsten Werte in der Region.
4. Wie die Region im NRW-Vergleich steht
7376 Menschen haben sich bislang in den zwölf Landkreisen und Großstädten des Regierungsbezirks Arnsberg (3,5 Millionen Einwohner) mit dem Coronavirus infiziert – das sind zumindest die bestätigten Fälle. Im Regierungsbezirk Arnsberg leben rund 20 Prozent der Einwohner in NRW, etwa 16 Prozent der gesamten Corona-Fälle in NRW (46.615) wurden hier registriert und 15 Prozent aller Todesfälle (1721) im Zusammenhang mit Corona.
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5. Das Drama um das Schmallenbachhaus
25. März: Im Vincenzkrankenhaus in Menden stirbt ein Bewohner des Alten- und Pflegeheims Schmallenbachhaus im benachbarten Fröndenberg. Es ist der traurige Auftakt zu einem Drama. In der Einrichtung gibt es zahlreiche Infektionen, das Coronavirus wütet erbarmungslos. Binnen weniger Wochen sterben 19 Bewohner – und auch zwei Mitarbeiter, die sich mit dem Corona-Virus infiziert hatten. „Ein Alptraum“, sagt Einrichtungsleiter Heinz Fleck, der selbst an dem Virus erkrankt war.
6. Warum viele Millionen Euro in die Region geflossen sind
784 Millionen Euro an Soforthilfen sind für kleine Unternehmen mit bis zu 50 Mitarbeitern und für Solo-Selbstständige im Regierungsbezirk Arnsberg ausgezahlt worden. Insgesamt 74.291 Anträge hatte die Behörde innerhalb kürzester Zeit bearbeitet und genehmigt. Wenn man die Zahl der genehmigten Anträge ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl (pro 1000 Einwohner) setzt, dann belegt Winterberg mit 37,5 positiv beschiedenen Anträgen den Spitzenplatz im Regierungsbezirk Arnsberg. Zu den ersten zehn gehören auch Herdecke, Gevelsberg, Schwelm, Olpe und Schmallenberg.
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Die Soforthilfen sollen die wirtschaftlichen Folgen des „Lockdowns“, also des Herunterfahrens des öffentlichen Lebens, abfedern: Am 16. März werden alle Schulen geschlossen, Tausende Schüler in der Region müssen Zuhause lernen. Am 18. März müssen fast alle Geschäfte schließen, alle Veranstaltungen sind verboten. Am 19. März zeigt unsere Zeitung Fotos aus ganz Südwestfalen mit dem Titel „So leer macht Corona unsere Innenstädte“. Sie bleiben es für gut vier Wochen, erst dann kommt Schritt für Schritt das Leben zurück. Und zwar ab 27. April – mit einer Maskenpflicht in Geschäften, in Bussen, Bahnen und anderen Orten. Die Masken werden zu einem Alltags-Utensil.
>> STIMMEN: Das sagen Menschen aus der Region zu ihren Corona-Erlebnissen
„Für uns Mitarbeiter im Lebensmittel- Einzelhandel war es eine große Herausforderung, wir durften die Menschheit von allen Seiten hautnah kennenlernen. Sehr, sehr dankbare Menschen, freundliche Menschen, verzweifelte Menschen, besonders unsere älteren Kunden, aber auch sehr undankbare respektlose und aggressive Menschen. Alle Erlebnisse werden irgendwie in Erinnerung bleiben. Gute und schlechte.“ Niklas Hochstein, Attendorn
„Das Gemecker mittlerweile. Wenig Einsicht, dass es jetzt so ist wie es ist. Hoffe, dass es bald so schnell wie möglich wieder vorbei ist und unsere Wirtschaft sich wieder erholt.“ Cäcilia Voss, Brilon
„Ich war froh, dass ich zwei Kilogramm Mehl ergattert hatte, an der Kasse wurde mir ein Paket wieder abgenommen. Aber wenn man Brot selber backt, sind zwei Pakete nicht viel.“ Ruth Prinz, Meschede
„Man kommt sich wie in einem schlechten Science-Fiction-Film vor, vor allem, wenn man immer und überall Menschen mit Schutzmaske sieht.“ Alexander vom Schemm, Gevelsberg
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„Als man nur noch zu zweit nach draußen konnte und andere Menschen einen großen Bogen machen mussten, als ob man mit diesen im Clinch läge. Dazu die geschlossenen Läden, das Homeoffice, die schlimmen Bilder aus anderen Ländern. Meine Generation kannte bis dahin diese Situationen nicht, dass auf einmal vieles, was eigentlich selbstverständlich ist, nicht mehr möglich ist.“ Carmen Püttmann, Arnsberg
„Ich stelle heute noch fest, dass die meisten Lebensmittel teurer geworden sind – da bringen zwei Prozent weniger Mehrwertsteuer nix. Viele Menschen müssen immer noch gut überlegen, was sie einkaufen.“ Nicole Scherzberg, Siegen
„Die angenehme Ruhe kurz nachdem die Situation anfing. Kaum Autos, kaum Menschen unterwegs. Nur Vogelgezwitscher.“ Ben Timme, Menden
„Dass es traurig ist, wie egoistisch die Menschheit ist. Da stehen Senioren vor leeren Klopapier-Regalen – und draußen freut sich das Assipaar über zwei Packungen, weil sie getrennt rein sind. Und im Gegensatz dazu,wie Hilfsbereitschaft sich wie eine Welle durch die Nachbarschaft verbreitet und untereinander geholfen wurde, damit auch Senioren und andere Risikogruppen nicht ohne Versorgung waren.“ Sonja Grey, Hagen
„Was ich nie vergessen werde: am 15. März kamen meine Tochter und ich von einer Kreuzfahrt nach Hause und mein Mann und meine Freundin haben uns feierlich mit Masken begrüßt. Wir haben herzlich gelacht, selbst die Fußgänger lachten mit. Kurze Zeit später wurde der Lacher dann doch leider bittere Realität.“ Julia Llik, Neunkirchen
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„In Erinnerung bleibt, gesehen zu haben, wer tatsächlich wichtig ist in unserer Gesellschaft. Und erkennen zu müssen, wie schnell das alles wieder der Vergessenheit anheim fällt.“ Holger Gronau, Arnsberg/Sundern
„Leere Straßen. Wenn man jemandem begegnet ist, wurde schnell weggeguckt. Als ob man sich alleine vom Hingucken anstecken könnte. Das Gefühl, innerlich gelähmt zu sein. Stillstand allenthalben.“ Anke Hauck, Arnsberg/Sundern
„Ich hab meine Familie besser kennengelernt durch Home-Office und weil Kindergärten / Schulen zu waren. Alle sehr nett, war aber anstrengend. Ich bin froh, wenn alles wieder normal wird.“ Stefan Windmöller, Ennepetal
„Wir öffneten morgens unsere Filiale, vor dem Laden warteten bereits 30 Kunden. Sie stürmten, durch den Ein- und Ausgang, auf das Mehl zu. Es war wie in einem Zombiefilm.“ Nadine Lichey, Hagen
„Klopapier in mehreren Läden suchen, Suche nach Dosenkonserven, Suche nach Babynahrung - und wenn man davon was bekommen hat, einen halben Freudentanz machen.“ Carina Blume, Meschede
„Die Menschen wurden entschleunigt, der Himmel war blauer, die Luft reiner. Tiere und Natur haben sich ihren Lebensraum zurück erobert. Gelernt hat die Menschheit leider nicht aus der Situation. Oder vielleicht doch?“ Petra Robinson, Siegen
„Was ich positiv finde, sind die Abstände an den Kassen der Geschäfte. Platz, niemand drängelt, kein Einkaufswagen an den Fersen.“ Sebastian Rocholl, Arnsberg/Sundern
„Arbeiten von zu Hause aus bringt einem viel mehr Lebensqualität als jeden Tag zum PC im Großraumbüro zu pendeln.“ Daniela-Angelika Schluck, Witten