Hagen. Ist das Lernen zu Hause Chance oder Problem: Eine Bestandsaufnahme nach der ersten unterrichtsfreien Woche - mit überraschenden Meinungen.

Etwas mehr als zehn Tage liegt der Beschluss zurück, dass die Schulen wegen der Ausbreitung des Coronavirus dicht gemacht werden. Zehn Tage? Es fühlt sich an, als wäre das zehn Monate her. Für manche zumindest. Schülern fehlt es bisweilen an Struktur, Eltern an Zeit und Wissen, wie den lieben Kleinen (und vor allem den Älteren) zu helfen wäre, Lehrern an Einflussnahme. Schule in Zeiten von Corona – ein Problemfall?

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Der Lehrer

„Als Lehrer sehe ich die jetzige Zeit als eine riesige Chance dafür, dass Bewegung in das System Schule kommt“, sagt Jan Günther, 30 Jahre alt. Der Hagener unterrichtet die 2b an einer Schule in Holzwickede – und zwar digitaler als je zuvor. Für seine Schüler erstellt er mehrfach in der Woche kleine Videos, die er bei Youtube in seinen neu geschaffenen Kanal hochlädt.

Der Name: "Du Herrn Günther", weil die Kinder das immer zu ihm sagen. Ein Lern-, Spiel- und Denkangebot für seine Eisbärenklasse, aber potenziell auch für andere Kinder dieses Alters. Mehr als ein halbes Dutzend Videos sind schon online. Themen u.a.: Kunst mit Kreis, Subtraktion, Verben.

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Zwei, drei, vier Minuten lang sind die Videos. Mehr als eine Stunde inklusive Vorbereitung braucht Jan Günther in der Produktion. Warum er das macht? „Ich hoffe, dass es hilfreich ist, wenn die Kinder zumindest ein bisschen Alltag haben und eine bekannte Stimme, die auf vertraute Weise erklärt“, sagt er. Über eine App ist Günther in Kontakt mit den Eltern, kann Wünsche und Anregungen berücksichtigen. „Wir können die Eltern ja nicht allein lassen“, sagt er.

Aber genau so fühlen sich manche, wenn sie derzeit versuchen, die Schule in den Alltag einzubauen, wenn sie mit ratlosen Kindern nicht weniger ratlos über lateinischer und englischer Grammatik hängen oder über Sinusfunktionen in Mathe. Und das alles immer mit der bangen Frage, wie die schulische Karriere der Kinder weitergeht, wenn irgendwann Normalität einkehrt.

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Die Eltern

Helga Hermann hat heute ein Schreiben erhalten vom Geschwister-Scholl-Gymnasium (GSG) in Winterberg. Darin heißt es, dass das Schulministerium noch einmal darauf hinweist, „dass die Inhalte der Materialien und Aufgaben, die Ihren Kindern zugehen, keine Prüfungsrelevanz haben“. Das erleichtert einige, sie nicht.

„Wie soll ich meine Kinder dann motivieren, sich jeden Tag hinzusetzen, ganze Bücher zu lesen oder seitenlange Analysen zu schreiben, wenn es für die Katz‘ ist?“, fragt Helga Hermann, die auch die bisherige Ausgestaltung der Zuhause-Beschulung für nicht ideal hält. „Die Lehrer halten es scheinbar sehr unterschiedlich, manche Lehrer erwarten Rückmeldungen zu erledigten Aufgaben und schicken eine Antwort, andere halten das nicht für nötig. Man sollte einheitliche Wege finden, die Kinder zu motivieren. Die Lehrer haben da auch einen Lehr- und Arbeitsauftrag.“

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Gleiche Schule, andere Meinung. „Bisher sind wir ganz zufrieden mit dem häuslichen Lernen“, sagt Patrick Appelhans, dessen Kinder ebenfalls aufs GSG gehen. Die Kinder arbeiteten nun immer selbstständiger, die Aufgaben seien „gut dosiert“, die Kommunikation in Sachen Hausaufgaben gut. „Einige Fachlehrer erwarten Rückmeldungen per Mail. Alle Lehrer stehen generell über Mail für Fragen und Probleme zur Verfügung – und das bisher an jedem Werktag.“

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Die Schüler

Die Zwillinge Fiona und Lilly (11) besuchen die sechste Klasse der Realschule der Stadt Meschede. Die beiden sitzen am Dienstagmittag gerade an ihren Hausaufgaben. Schriftliches Multiplizieren von Kommazahlen ist da gefragt. Jeden Montag gibt es in den Hauptfächern neue Wochenpläne, die auf der Homepage der Schule veröffentlicht und zu Hause abgearbeitet werden.

Wie das ist? „Anders“, sagt Fiona: „Es sind keine Freunde da und kein Lehrer, den man mal eben fragen kann. Und Mama weiß auch nicht alles.“ Dann muss Lernen improvisiert werden. Vier bis fünf Stunden sitzen die Kinder täglich am Schreibtisch, sagt Mama Rebekka Knippschild. Meistens freiwillig, betont sie. „Sie wissen, dass keine Ferien sind.“

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Das weiß Maja Rose (15) auch. Sie besucht die Realschule in Bad Berleburg, zehnte Klasse. Im Mai wären Abschlussprüfungen. Eine diffuse Sorge, „dass wir den Anschluss verlieren“, habe sie deswegen schon. Sie hat per Mail einen Plan für fünf Wochen bekommen, den sie abarbeitet. Eine Begutachtung der Arbeiten durch die Lehrer findet erst statt, wenn die Schule wieder begonnen hat. "Das ist in Ordnung so", sagt sie.

Bei ihrem kleinen Bruder Joris (11) ist das ganz anders. Er besucht das Johannes-Althusius-Gymnasium in Bad Berleburg, sechste Klasse. Dort halten die Lehrer beständig Kontakt zu den Schülern über eine App, die es erlaubt, in den einzelnen Klassen zu chatten, dem Lehrer Fragen zu stellen, die Hausarbeiten am Ende der Woche zur Kontrolle hochzuladen.

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Der Experte

Dr. Jörg Siewert, Erziehungswissenschaftler an der Universität Siegen und Experte für Schulpädagogik, Schul- und Unterrichtsforschung, sieht im Hinblick auf Teile der Lehrer- und Schülerschaft "eine Überforderung für beide Seiten". Das sei aber kein Vorwurf, sondern normal in der außergewöhnlichen Lage. Noch sei er entspannt. "Man kann Schülern ruhig mal eine Auszeit gönnen.

Aber es bleibt dabei: Deutschland ist vermutlich das Land, in dem die größte Bildungsungerechtigkeit herrscht. Das, was gerade passiert, kann diesen Umstand noch verstärken – vor allem in dem Fall, wenn der Zustand noch länger bestehen bleibt. Denn derzeit ist noch wichtiger als schon in normalen Zeiten, welcher sozialen Herkunft die Kinder entstammen. In Bildungsbürgerhaushalten gibt es eine inhaltliche Rahmung des Homeschooling-Unterrichts. Ich sehe es als hoch problematisch an, dass das aber nicht überall der Fall sein kann."