Berlin. Ob beim Karneval oder im Urlaub: Oft soll der Alkohol Schuld an einem Seitensprung sein. Doch gilt das wirklich als Entschuldigung?

  • Senkt Alkohol tatsächlich die Hemmschwelle zum Fremdgehen – oder dient er nur als Ausrede?
  • Und warum werden Feste wie der Karneval oft zum Anlass für Seitensprünge?
  • Zwei Experten erklären, wann Untreue beginnt und welche Faktoren sie begünstigen.

Ein Seitensprung ist eine schmerzhafte Erfahrung, doch die anschließende Rechtfertigung macht die Untreue oft noch schlimmer. Eine besonders beliebte Ausrede: „Ich war betrunken.“ Einer US-amerikanischen Studie zufolge kommt dieses Argument nicht von ungefähr: Menschen, die regelmäßig viel Alkohol oder Drogen konsumieren, neigten demnach tatsächlich häufiger zum Fremdgehen.

Doch trägt der Alkohol wirklich die Schuld daran, dass wir unsere Treueversprechen vergessen? Eine Paartherapeutin und eine Diplom-Psychologin erklären den Unterschied zwischen einem Ausrutscher und systematischem Betrug – und verraten, warum gerade beim Karneval so viele Menschen fremdgehen.

Affäre oder „Ausrutscher“: Wann spricht man von Betrug?

Wo beginnt Betrug? Bei der langjährigen Affäre oder bereits beim sogenannten einmaligen Ausrutscher? Der Berliner Diplom-Psychologin und Paartherapeutin Tina Rosenberger zufolge gibt es darauf keine allgemeingültige Antwort. „Was als Fremdgehen empfunden wird, ist von Paar zu Paar unterschiedlich und hängt stark von der Beziehungsform ab“, sagt sie.

So fängt der Seitensprung für besonders treue oder monogame Menschen vielleicht schon beim Kuss an, bei Menschen mit offenen Beziehungen dagegen erst bei längeren Affären oder emotionaler Untreue. Wie unterschiedlich die Wahrnehmung ist, zeigt auch eine YouGov-Umfrage: Während 56 Prozent der Frauen bereits einen Kuss als Seitensprung empfinden, sind es bei den Männern nur 40 Prozent.

Trotz dieser individuellen Sichtweisen sieht Rosenberger einen zentralen Unterschied: „Generell wird ein geplantes Vorgehen, wie heimliche Verabredungen und Hotelbuchungen, meist als Betrug wahrgenommen“, sagt sie. „Spontane, ungeplante Begegnungen werden dagegen oft als Ausrutscher gewertet“.

Diplom-Psychologin Tina Rosenberger
Tina Rosenberger ist Diplom-Psychologin, Gestalt- und Paartherapeutin und leitet eine eigene Praxis in Berlin. Ihr Schwerpunkt liegt darin, Beziehungen harmonischer und erfüllter zu gestalten und Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung zu unterstützen. © Sara Walker | Sara Walker

Dabei komme es nicht nur darauf an, was passiere, sondern auch wie oft, ergänzt die Berliner Diplom-Psychologin Anja Wermann, Sie ist spezialisiert auf Paar-, Single- und Sexualberatung. „Ein betrunkener Kuss auf einer Party geht vielleicht noch als Ausrutscher durch“, sagt sie. „Passiert das aber öfter, wird es schnell zum Betrug.“ Um Missverständnisse zu vermeiden, rät Wermann Paaren dazu, die individuellen Grenzen vorab festzulegen.

Kann Alkohol zu Untreue führen?

Was aber, wenn ein Partner diese bricht und die Verantwortung dafür auch noch abgibt? Rosenberger: „Alkohol kann tatsächlich die Hemmschwelle zum Fremdgehen senken, da moralische und soziale Aspekte der eigenen Persönlichkeit durch Alkohol leichter vergessen werden.“ Mit anderen Worten: Der betrunkene Zustand verdrängt den Teil von uns, der treu sein möchte. An seine Stelle tritt der impulsive Teil, der weniger Rücksicht auf Konsequenzen nimmt und im Hier und Jetzt lebt.

Mehr dazu: Beziehung zu einem Alkoholiker – Ab wann wird es „toxisch“?

Doch Rosenberger stellt klar: „Alkohol nimmt uns nicht die Verantwortung ab.“ Das bestätigt auch Diplom-Psychologin Anja Wermann. Zwar könne Alkohol Hemmungen abbauen, doch die Entscheidung zur Grenzüberschreitung sei in vielen Fällen schon vorher gefallen. Ihr Fazit: „Wer freiwillig zu Alkohol oder Drogen greift, trägt auch die volle Verantwortung für die Folgen dieses Konsums“.

Diplom-Psychologin Anja Wermann
Die Berliner Diplom-Psychologin Anja Wermann führt eine eigene Praxis, in der sie Paar-, Single- und Sexualberatung anbietet. © Matthias Friel | Matthias Friel

Fremdgehen an Karneval: Warum Seitensprünge hier so häufig sind

Dabei kann die Hemmschwelle für einen Seitensprung auch ohne Substanzen sinken. Oft spielen besondere Situationen und Umstände eine entscheidende Rolle. „Feste wie Karneval oder Urlaubsreisen vermitteln durch die Distanz zum Partner oder zur Partnerin oft das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein“, erklärt Paartherapeutin Rosenberger.

Studien bestätigen diese Loslösung von der Beziehung: Laut einer Umfrage des Seitensprungportals FirstAffair.de geben zwei Drittel der Befragten zu, dass sie Gelegenheiten im Karneval für ein erotisches Abenteuer nutzen würden. Rund 16 Prozent der Männer besuchen den Karneval laut eigenen Angaben sogar mit der gezielten Absicht, fremdzugehen.

Die Anreize unterscheiden sich dabei deutlich zwischen den Geschlechtern: Während 41 Prozent der Frauen angaben, durch die Anonymität hemmungsloser zu werden, führten bei etwa der Hälfte der Männer die ausgelassene Stimmung und der Einfluss von Alkohol zu diesem Effekt.

Fremdgehen: Diese Betrugsfälle schmerzen am meisten

Wie aber erlebt der oder die Betrogene den Seitensprung? Laut Tina Rosenberger schmerzen nicht nur die Taten selbst, sondern auch die Rechtfertigungen: „In meiner Praxis erlebe ich häufig, dass der Betrogene es als ärgerliche Ausrede empfindet, wenn der andere sich mit Alkohol und Drogen zu entschuldigen versucht“, erklärt sie. Statt den Schaden zu mindern, rissen solche Erklärungen die Wunde meist noch weiter auf.

Auch bewusste Täuschungen, wie falsche Angaben über den Aufenthaltsort, verstärken den Schmerz. „Solche Täuschungen zerstören das Vertrauen und machen es umso schwerer, zu verzeihen“, sagt Rosenberger. Ähnlich ist es mit einer bewusst geführten Affäre: Diese wiegt auch deshalb schwerer, weil sie nicht nur ein körperliches, sondern auch ein emotionales Doppelleben beinhaltet.

Umso wichtiger ist dann eine empathische Kommunikation: „Ich erlebe bei Paaren immer wieder, dass ein ehrlicher Umgang mit dem Geschehenen und eine aufrichtige Entschuldigung von den Betroffenen als mildernder Umstand empfunden werden“, sagt Rosenberger. Sie rät daher zu einem frühzeitigen Geständnis des Seitensprungs. „Je länger der betrogene Partner im Irrglauben lebt, desto größer ist der Schmerz, wenn die Wahrheit ans Licht kommt“, so die Diplom-Psychologin. 

Nach Betrug verzeihen oder loslassen? Das sagen die Expertinnen

Dennoch stehen Betrogene nach einem solchen Ereignis oft vor einer schwierigen Frage: Sollen sie bleiben oder die Beziehung beenden? Der Vertrauensbruch stürzt viele Betrogene in ein Dilemma: „Früher gefasste Grundsätze wie ‚einen Seitensprung würde ich nie akzeptieren‘ stehen plötzlich im Konflikt mit dem Wunsch, den Partner trotz der Verletzung weiter zu lieben“, erklärt Paartherapeutin Tina Rosenberger. Dieser innere Dialog sei schmerzhaft, aber notwendig.

Entsprechend kann es dauern, bis der nächste Handlungsschritt klar ist. Aber: „Die richtige Entscheidung kommt von ganz alleine“, betont die Therapeutin. „Man kann sie nicht erzwingen, bevor sie reif ist“. Die Unterstützung durch Angehörige oder einen Therapeuten könne in dieser Phase helfen.

Vor allem aber rät Rosenberger Betrogenen zum Blick nach innen: „Betroffene sollten den verschiedenen Anteilen in sich und den unterschiedlichen Gefühlen wie Wut, Angst, Misstrauen, Sehnsucht und Eifersucht Raum und Zeit geben“, rät sie. Denn: Nur durch das bewusste Zulassen dieser Gefühle kann eine klare Sicht auf die eigene Situation entstehen.

Lesen Sie auch: Affäre mit einem vergebenen Mann? Zwei Geliebte packen aus

Wie Paare nach einem Seitensprung Klarheit finden

Auch Diplom-Psychologin Anja Wermann empfiehlt den Betrogenen den Fokus auf sich selbst. Die Vergebung sei ein bewusster Schritt, die Beziehung zu retten und weiterzuführen. „Vergeben tut man in erster Linie für sich selbst – um inneren Frieden zu finden und mit der Verletzung abzuschließen“, so Wermann. Gleichzeitig mahnt sie: „Vergebung sollte niemals erzwungen werden.“

Wer nicht vergeben könne, soll der Psychologin zufolge ehrlich zum Partner und zu sich selbst sein. „Wenn man dem Partner den Seitensprung immer wieder vorwirft oder einen Groll in sich trägt, den der andere spürt, wird das mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu einer glücklichen oder zumindest zufriedenen Partnerschaft führen“, sagt Wermann. In solchen Fällen sei eine Trennung oft der bessere Weg für beide.