Berlin. Viele AD(H)S-Betroffene leiden unter Gedächtnisproblemen – mit teils fatalen Folgen für den Alltag. Ein Experte verrät, was hilft.
Im Alltag prasseln jede Sekunde unzählige Reize auf uns ein. Von Farben und Gerüchen über Geräusche und andere Empfindungen bis hin zu gedanklichen Eindrücken und Emotionen. Doch nur ein Bruchteil davon wird uns wirklich bewusst. Denn unser Gehirn filtert, sortiert und priorisiert ständig alles, was auf uns einströmt. Wäre dem nicht so – wir wären schlichtweg überwältigt von der Fülle an Informationen, die uns umgibt.
Bei Menschen mit AD(H)S ist dieser Filter jedoch beeinträchtigt. Das Gehirn kann nicht ausreichend zwischen wichtigen und unwichtigen Reizen unterscheiden und hat Probleme, sie zu ordnen und gewichten. Sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und irrelevante Informationen auszublenden, stellt betroffene Personen nicht selten vor ein eine große Herausforderung. „Menschen mit AD(H)S kämpfen im Alltag oft mit einer Reizüberflutung“, erklärt Thilo Palloks, Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiater aus München.
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AD(H)S-Gehirn: Ständiger Kampf mit Reizüberflutung
Was dann passiert, kann man sich wie bei einem Computer vorstellen: Durch die ständige Reizüberflutung läuft der Arbeitsspeicher des Gehirns auf Hochtouren. Das Kurzzeitgedächtnis, in dem neue Informationen für kurze Zeit gespeichert werden, bevor sie in das Langzeitgedächtnis übergehen, ist durch die Informationsflut überlastet. Neue Informationen können aufgrund der begrenzten Speicherkapazität nur schwer aufgenommen werden und werden häufig gleich wieder vergessen.
„Mittlerweile hat der Begriff des ‚Arbeitsgedächtnis‘ in der Neuropsychologie den etwas altmodischen Begriff Kurzzeitgedächtnis abgelöst“, sagt Palloks. „Das Arbeitsgedächtnis meint ein komplexeres System als das Kurzzeitgedächtnis. Im Arbeitsgedächtnis werden Informationen nicht nur kurzfristig gespeichert, sondern auch weiterverarbeitet und manipuliert. Das heißt, es wird mit ihnen gearbeitet“, so der Psychiater. Ausschlaggebend sei das Arbeitsgedächtnis für kognitive Aufgaben wie Lernen, das Lösen von Problemen, Handlungsplanung oder Entscheidungsfindung.
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Gedächtnisprobleme bei AD(H)S: Stärke und Form kann variieren
Aber wie viele AD(H)S-Betroffene haben eigentlich Probleme mit dem Arbeitsgedächtnis? „Wenn man davon ausgeht, dass die Kernsymptome von AD(H)S eine Aufmerksamkeitsstörung und eine Reduktion der Aufmerksamkeitsdauer beinhalten und das Arbeitsgedächtnis wiederum stark mit der Aufmerksamkeit und Konzentration verbunden ist, liegt auch bei jedem und jeder AD(H)S-Betroffenen eine Arbeitsgedächtnis-Störung vor“, so Palloks.
Die Stärke und Form der Störung kann dabei allerdings variieren. Während manche Betroffene nur Probleme haben, ihre Schlüssel wiederzufinden oder sich Namen zu merken, vergessen andere laufend dringende Termine oder sogar wichtige Medikamente. Verstärkt werden Arbeitsgedächtnis-Störungen zusätzlich durch Stress und Multitasking.
„Haben Personen mit AD(H)S jedoch viel Interesse für eine Sache, können sie sich Dinge in diesem Kontext auch deutlich besser merken. Das hängt mit dem Belohnungssystem im Gehirn zusammen. AD(H)S-Gehirne ‚lechzen‘ nach Dopamin. Wenn es also zum Beispiel um ein geliebtes Hobby geht, kommt es durch die Beschäftigung damit zu einer Dopamin-Ausschüttung“, erklärt Palloks. Solche Informationen könnten dann deutlich besser verarbeitet und ins Langzeitgedächtnis übertragen werden als vergleichsweise „langweilige“ Informationen.
So können AD(H)S-Betroffene ihr Gedächtnis verbessern
Doch es gibt Möglichkeiten, wie Betroffene ihr Gedächtnis verbessern können. Die wirksamste: Stimulanzien wie Ritalin. „Die Behandlung mit Stimulanzien führt in 95 Prozent der Fälle zu einer Verbesserung aller Kernsymptome von AD(H)S, wie zum Beispiel Konzentration und Aufmerksamkeit. Dadurch verbessert sich auch die Leistung des Arbeitsgedächtnisses“, sagt Palloks.
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Aber wenn man auf Medikamente verzichten will – kann man die Gedächtnisleistung auch auf andere Weise verbessern? „Grundsätzlich ja. Dennoch gilt ein Dreiklang aus Psychoedukation, psychosozialen Interventionen und Medikation bislang als die einzig nachweislich erfolgreiche Behandlungsstrategie. Psychoedukation findet nach einer Diagnosestellung immer statt, die anderen beiden Maßnahmen je nach Schweregrad“, erklärt der Psychiater. „Ergänzend lässt sich das Gedächtnis aber zweifellos durch kognitives Training fördern. Möglicherweise kann man dann auch die Dosis der Medikamente reduzieren. Es ist aber keine Heilmethode“, so Palloks weiter.
Kognitives Training bei AD(H)S
Um das Gedächtnis zu trainieren, reichen schon einfache Gesellschaftsspiele wie „Ich packe meinen Koffer“. Beim Versuch, die bereits im Koffer gelandeten Gegenstände immer wieder aufzuzählen und neue hinzuzufügen, wird das Arbeitsgedächtnis stark gefordert. Thilo Palloks erklärt eine weitere Trainingsmethode: „Man merkt sich eine Nummernfolge. Zu Beginn reichen vier Ziffern. Dann widmet man sich einer anderen Aufgabe, die kognitiv fordernd ist, man zählt beispielsweise zehn Hauptstädte auf. Danach versucht man die Nummernfolge zu wiederholen.“ Die Erweiterung: Man versucht, die Nummern rückwärts wiederzugeben.
Beim kognitiven Training zahlt sich, ähnlich wie im Fitnessstudio, eine konstante Praxis aus. Am effektivsten sind kognitive Übungen nämlich nicht, wenn sie besonders lang dauern, sondern wenn man sie regelmäßig (am besten täglich) ausführt. Das hilft nicht nur AD(H)S-Betroffenen, sondern beugt auch Erkrankungen wie Demenz vor.