Berlin. Wer seine Beziehung öffnet, den erwartet mitunter sexuelle Freiheit. Doch ohne gemeinsamen Leitfaden können Paare sich auch verlieren.

Ein Leben für immer nur zu zweit – das ist traditionell das, was sich Paare unter Eheschließung vorstellten. Doch die Treue wird in Deutschland nicht immer eingehalten: In einer repräsentativen Befragung aus dem Jahr 2017, veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt, gaben 17 Prozent der Befragten an, während einer Partnerschaft sexuellen Verkehr außerhalb der Beziehung gehabt zu haben. Ist es an der Zeit, das Konzept der lebenslangen Monogamie zu überdenken? Eine Alternative könnte die offene Ehe sein.

Das Konzept „offene Ehe“, also eine Partnerschaft, in der die Freiheit herrscht, auch mit anderen Personen Sex haben zu dürfen, war in Deutschland tatsächlich lange strafbar – in der ehemaligen DDR bis 1968, in der damaligen BRD bis 1973. Seither scheint die nicht-monogame Beziehung interessanter geworden zu sein: Laut einer Studie der Partnervermittlung Parship könnte sich jeder Dritte der rund 1.000 Befragten eine offene Beziehung vorstellen. Allerdings sind sich auch 80 Prozent aller Befragten einig, dass es klare Regeln braucht, damit das Modell funktioniert. Welche das sind, erklärt Paartherapeutin Nina Jares.

Offene Ehe: Das sind Vor- und Nachteile

Eine offene Beziehung beruht auf der Entscheidung, dass mindestens ein Partner polygam leben darf. Polygamie ist das gegenteilige Verhalten zur Monogamie: Es darf mehrere Sexualpartner geben. Eine offene Partnerschaft ist noch einmal zu trennen von einer Polyamorie: Dabei handelt es sich um mehrere Liebesbeziehungen gleichzeitig. Entscheiden sich Verheiratete, ihre Ehe zu öffnen, spricht man von einer offenen Ehe.

Den Partner mit anderen Menschen zu teilen, mag auf den ersten Blick für manche befremdlich klingen. Doch es gibt durchaus Vorteile: „Kommuniziert man gut, kann das eine tolle Sache sein“, sagt Paartherapeutin Nina Jares. Denn um eine Langzeitbeziehung erfolgreich führen zu können, brauche es zwar Stabilität, aber auch immer neue Anreize. Die Expertin bemerkt: „Paare trennen sich manchmal, weil Langeweile die Beziehung bestimmt. Durch eine offene Ehe können Paare wieder neue, spannende Impulse setzen.“

Nina Jares
Paartherapeutin Nina Jares ist überzeugt, dass eine offene Ehe eine tolle Sache sein kann. © privat | Privat

Für die persönliche Entwicklung könnte die offene Ehe Jares zufolge ebenfalls wertvoll sein: „Ich kann mich als Partner in einer offenen Ehe wieder ganz neu entdecken und ganz anders auftreten.“ Vielleicht sei man in der Ehe eher die Person, die dem anderen folgt. In einer anderen Beziehungskonstellation könne man jemand anderes sein.

Allerdings könne das auch zum Nachteil werden: „Wenn ich mich weiterentwickle und neue Vorlieben in die ursprüngliche Beziehung einbringe, ist es möglich, dass der Partner die Entwicklung nicht mitgehen möchte, kann oder will“, erläutert die Therapeutin.

Beziehung öffnen: Worüber Paare vorher nachdenken sollten

Eine offene Ehe kann trotz alledem ein großer Schritt sein und passt sicherlich nicht zu jedem. Jares betont: „Es gibt verschiedene Punkte, die jedes Paar besprechen sollte, bevor es eine offene Beziehung eingeht.“ Dazu zähle die Frage danach, was passiert, wenn sich jemand verliebt. „Wie können wir als Paar das Risiko des Verliebens minimieren? Dürfen wir öfters die gleiche Person treffen? Da wäre die Chance natürlich größer, dass sich jemand verliebt“, so die Expertin.

When life gets in the way of love
So frei eine offene Ehe auch sein mag – es müssen dennoch viele Punkte besprochen werden, damit es mit der Beziehung funktioniert. © Getty Images | kupicoo

Zudem sollte geklärt werden, ob Personen aus dem Freundeskreis oder Kollegen von der Arbeit getroffen werden dürfen oder ob das ein Tabu ist. Und wie viel Paare sich von ihren Dates erzählen und wie viel sie davon teilen wollen. Jares sagt: „Vielleicht möchte ich mich als Partner auch komplett davon abgrenzen und nichts darüber wissen.“

Regeln in der offenen Beziehung: „Eine offene Ehe kostet viel Zeit“

Ist man sich der Vor- und Nachteile der offenen Ehe bewusst und hat sich Gedanken über die Rahmenbedingungen gemacht, stellt sich die Frage, mit welchen Regeln das Konzept funktionieren kann. Es gibt aber nicht das eine Handbuch, mit dem die Öffnung garantiert klappt und alle glücklich sind. „Mit welchen Regeln eine offene Ehe funktioniert, kann man nicht pauschal sagen, denn die Inhalte der Regeln sind je Paar total individuell“, sagt die Therapeutin. Es müsse gemeinsam entschieden werden, wofür es Regeln braucht, wofür eventuell nicht und wie diese aussehen sollen.

Trotzdem hat die Expertin sechs wichtige Tipps, die für alle Paare hilfreich sind:

  1. Das Modell darf kein Rettungsanker sein
    „Ich sehe ein Problem darin, wenn man der offenen Beziehung aus Angst, den Partner ansonsten zu verlieren, zugestimmt hat. Paare sollten nicht mit der Hoffnung, die Ehe retten zu können, in eine offene Beziehung gehen. Eine offene Beziehung funktioniert dann am besten, wenn man aus einer glücklichen, zufriedenen Beziehung heraus startet und noch etwas hinzufügen möchte: Freiheit, Freude am Experimentieren und weitere sexuelle Erfahrungen. Die offene Ehe sollte für beide Partner einen Mehrwert für die Beziehung bedeuten und keinen Rettungsanker darstellen.“
  2. Kommunikation
    „Wenn es eine ultimative Regel gibt, dann wirklich diese: Jeder sollte seine Bedürfnisse in einer offenen Ehe ganz offen mit dem Partner kommuniziert haben. Eine offene Ehe kostet viel Zeit: Nicht nur die schönen Momente und der Alltag müssen miteinander geplant werden, sondern es muss auch genügend Raum für die Kommunikation über die Beziehung geschaffen werden.“
  3. Flexibel bleiben
    „Die Regeln und Bedingungen, die das Paar sich gesetzt hat, müssen immer wieder verändert werden dürfen. Wenn ein Partner sich mit einem Umstand nicht mehr wohlfühlt, dann müssen die Rahmenbedingungen neu angepasst werden.“
  4. Individuelle Bedürfnisse beachten
    „Ich mache in meiner Praxis öfters die Erfahrung, dass Paare das Gefühl haben, sie müssten gleiche Regeln für beide Partner festlegen, weil das fair sei. Es darf jedoch unterschiedliche Regeln geben. Vielleicht möchte ich gar nicht wissen, mit wem der Partner schläft. Dieser wiederum möchte das immer erfahren. Mit ungleichen Regeln füreinander können Paare viel spezifischer auf die eigenen Bedürfnisse eingehen. Das könnte beispielsweise auch bedeuten, dass ein Partner Sex außerhalb der Ehe haben darf, für den anderen aber nur Küssen erlaubt ist.“
  5. Etwas Exklusivität
    „Die Ehe sollte trotzdem mit Erlebnissen genährt werden, die exklusiv für das Paar bleiben. Wochenendtrips und Urlaub zum Beispiel könnten nur dem Ehe-Partner vorbehalten sein. Vielleicht dürfen auch bestimmte Restaurants, Orte oder Sexpraktiken nicht mit den anderen Partnern geteilt werden.“
  6. Kein Doppelleben
    „Gute Kommunikation ist Pflicht. Das Konzept offene Ehe darf nicht als ein Doppelleben angesehen werden, sondern als Teil der gemeinsamen Beziehung.“

Neben diesen Regeln sei es außerdem wichtig, dass Paare nicht zu verbissen sind, wenn es mit der offenen Beziehung nicht klappt, so Jares. Die Paartherapeutin meint: „Das ist kein Scheitern, es ist in Ordnung, die Beziehung wieder zu schließen.“ Sie bezeichnet die offene Ehe als „ein Modell auf Zeit“.