Erfurt. Mit Rechtsextremist Höcke wird die AfD stärkste Kraft in Thüringen. Die anderen Parteien müssen nun an wackeligen Bündnissen werkeln.
Historisches bahnt sich manchmal leise an, fast banal. Als um 18 Uhr klar ist, dass mit AfD in Thüringen hier zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik als stärkste Partei in einen Landtag einzieht, sitzt im Fraktionssaal der AfD im Landtag niemand. Es ist leer, ein paar Fotografen huschen herum, ein paar Journalisten warten irritiert. Kein Jubel, keine Live-Übertragung. Da ist nur eines: Stille.
Ein paar Hundert Meter entfernt vom Landtag, im Gasthaus „Hopfenberg“, feiert die AfD. Als Björn Höcke dort das Restaurant verlässt und Richtung Landtag aufbricht, spricht er von einem „historischen Sieg“. Laut, ausgelassen, soll es gewesen sein, als die Ergebnisse verkündet werden. Aber die Partei ist unter sich. Medien sind nicht vor Ort im Gasthof. Nachdem mehrere Journalisten zunächst nicht zugelassen worden waren, dann geklagt und Recht bekommen haben, sah sich die AfD gezwungen, die Pressevertreter komplett von der Wahlparty auszuschließen.
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Rechtsextreme Partei stärkste Kraft im Parlament – erstmals seit der NS-Zeit
Eine nach Ansicht des Verfassungsschutzes rechtsextreme Partei zieht als stärkste Kraft in ein deutsches Parlament ein – das erste Mal seit Ende des Nationalsozialismus. Erreicht hat das Björn Höcke, ein Westdeutscher, der einst in Hessen als Gymnasiallehrer gearbeitet hat. Seit zehn Jahren führt er die AfD in Thüringen an. Sie gilt als gesichert rechtsextrem. Es scheint: Je radikaler Höcke die AfD machte, desto erfolgreicher wurde sie. Am Wahlabend sagt Höcke, er wolle „Regierungsverantwortung“ übernehmen und zu „Sondierungsgesprächen“ einladen. „Man wird an uns nicht vorbeikommen, wenn man stabile Verhältnisse für Thüringen will.“
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Und noch eine historische Überraschung hält die Wahl bereit. Eine Partei, die noch nicht einmal ein Jahr existiert, wird auf Anhieb zur drittstärksten Kraft im Landtag: das Bündnis Sahra Wagenknecht, das BSW.
Zwei Parteien am politisch äußeren Rand stellen nun in Thüringen gemeinsam fast die Hälfte der Stimmen. Die extremen Ränder quetschen mit Wucht die politische Mitte ein. Und eine Frage drängt sich auf: Macht die einstige Linken-Ikone Sahra Wagenknecht den völkischen Nationalisten Björn Höcke zum Ministerpräsidenten? Fachleute vor Ort halten eine Koalition aus AfD und BSW für sehr unwahrscheinlich. Die BSW-Spitzenfrau Katja Wolf ist ausgemachte AfD-Gegnerin. Lange war die Sozialpädagogin Politikerin der Linken und Oberbürgermeisterin von Eisenach. Sie trat dem BSW auch aus einem Grund bei: einen Ministerpräsidenten Höcke zu verhindern. Auch Sahra Wagenknecht lehnt am Wahlabend eine Koalition mit der AfD ab.
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Der Krieg in der Ukraine und Migration prägen den Wahlkampf in Thüringen
Niemand will mit der AfD koalieren. Und doch bleibt ein Risiko: In der Wagenknecht-Partei gibt es einige Abgeordnete, die durchaus die Politik der AfD teilen – gerade mit Blick auf ihre Ablehnung der Ukraine-Hilfe im Kampf gegen die russische Aggression. Auch in ihrer Rhetorik gegen Asylsuchende und Migranten nähern sich die Parteien an. Genau diese bundespolitischen Themen dominierten den Wahlkampf. Denkbar ist, dass bei einem entscheidenden Wahlgang im Parlament einige BSW-Abgeordnete doch für Höcke stimmen.
Ob ein Bündnis aus CDU, BSW und SPD möglich ist, bleibt offen. Es erschien vor der Wahl als einzig realistische Kompromiss-Lösung. Tatsächlich sind die Christdemokraten um Spitzenmann Mario Voigt bei landespolitischen Themen gar nicht so weit entfernt von der Wagenknecht-Partei. CDU-Mann Voigt kann sich eine Zusammenarbeit mit Wolf vom BSW vorstellen.
Mögliche Koalition: Reicht die Schnittmenge zwischen CDU, BSW und SPD?
Eine Zusammenarbeit mit BSW hat die Union um Bundes-Chef Friedrich Merz nur für den Bund ausgeschlossen, und den Landesverbänden die Entscheidung überlassen. Ähnliches gilt für die SPD. Brisant wird es nur: Wagenknecht will eine „Friedenspolitik“ mit Russland zur Bedingung von Koalitionen machen. Das wird sowohl für CDU als auch für SPD zu einer Gratwanderung. Ein Zugeständnis an die Sozialdemokraten als möglichen Koalitionspartner von CDU und BSW könnte das Amt des Landtagspräsidenten sein – das in Erfurt eigentlich der AfD als stärkste Kraft zusteht.
Nur: Haben CDU, BSW und SPD am Ende überhaupt ausreichend Sitze im Parlament? Bei der Ministerpräsidentenwahl muss ein Bewerber im ersten oder im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichen, um gewählt zu sein. Im dritten Wahlgang aber ist gewählt, wer die meisten Stimmen auf sich vereinen kann. Das erhöht den Druck auf CDU und Co. Theoretisch denkbar ist auch ein Bündnis aus CDU, Wagenknecht-Partei und Linkspartei des bisherigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Doch das ist politisch noch wackeliger. Die CDU will noch viel weniger mit den Linken als mit dem BSW regieren.
Selbst wenn dieses Bündnis eine AfD-Landesregierung verhindert, hat die Höcke-Partei möglicherweise massiven Einfluss auf die Politik. Stellt sie ein Drittel der Abgeordneten, verfügt die AfD über eine „Sperrminorität“. Sie kann Änderungen der Verfassung verhindern. Sie kann Posten für den Rechnungshof, Rundfunkräte und Verfassungsrichter blockieren.
Noch etwas ist historisch an diesem Abend: Die Ära Ramelow, als einziger Regierungschef der Linkspartei in Deutschland, ist Geschichte. Nach zehn Jahren im Amt wurde der 68-Jährige abgewählt – und damit auch sein einzigartiges Projekt: die rot-rot-grüne Minderheitsregierung. Linkspartei, SPD und Grüne hatten im Landtag keine Mehrheit, die vergangenen Jahre waren sie ständig auf Kompromisse mit der Opposition angewiesen. Die Bilanz ist nicht schlecht, Ramelow immer noch der beliebteste Politiker im Land – und doch verlieren alle drei Parteien – Linke, SPD und Grüne – an Zustimmung. Die Linke stürzt sogar ab. Hatte sie 2019 noch stolze 31 Prozent der Stimmen, ist ihr Ergebnis nun halbiert.
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