Berlin. Seit Sommer 2023 sorgt Gennadi Rakitin in Russland mit patriotischen Gedichten für Aufsehen. Dabei stammen die aus Nazi-Deutschland.
Gennadi Rakitin galt als der neue Literaturstar unter russischen Patrioten. Seit Sommer 2023 veröffentlichte der 48-jährige Schulleiter mit grauen Haaren und Bart auf der russischen Social Media-Plattform VKontakte regelmäßig Gedichte, die den russischen Krieg gegen die Ukraine und Präsident Wladimir Putin oder auch die Wagner-Kämpfer verherrlichen.
Fast 100 russische Parlamentsabgeordnete und etwa 30 Senatoren folgen Rakitin, dessen Gedichte inzwischen auch in patriotrischen Telegram-Kanälen geteilt werden. Eines seiner Gedichte schaffte es gar ins Halbfinale eines Gedichtwettbewerbs zum Thema „Krieg und Vaterlandsverteidiger“, der von einem Zweig des russischen Schriftstellerverbands veranstaltet wurde.
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Vermeintlichen Dichter mit KI erzeugt
Doch was seine Fans bis vor kurzem nicht wussten: Gennadi Rakitin gibt es nicht. Der dichtende Schulleiter ist eine Kunstfigur, die von russischen Anti-Kriegsaktivisten erfunden wurde. Sie erstellten im vergangenen Sommer ein VKontakte-Konto für Rakitin, der eigentlich eine Figur aus dem Roman „Die Brüder Karamasow“ des bekannten russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewski ist, und versahen den Account mit einem KI-generierten Fake-Bild.
Doch Rakitins Gedichte, die sind echt, auch wenn sie viel älter sind und nicht aus Russland stammen. Geschrieben wurden sie in den 30er und 40er-Jahren von deutschen Nazi-Autoren wie Eberhard Möller oder Herybert Menzel, die damit ihre Verehrung für Hitler zum Ausdruck brachten. Die Anti-Kriegsaktivisten übersetzten diese Gedichte und passten sie nur sprachlich etwas an: Aus „Hitler“ wurde etwa „Putin“ und aus dem „SS-Mann“ der „Wagner-Kämpfer“.
Den Schwindel bemerkte niemand und wie sich an der wachsenden Popularität von Rakitins Account zeigt, scheinen die Nazi-Gedichte den durch die russische Kriegspropaganda erzeugten Zeitgeist genau zu treffen. Das von den russischen Truppen verwendete Z ist dabei das zentrale Symbol der russischen Patrioten geworden und inzwischen gibt es in Russland ein ganzes Genre sogenannter Z-Literatur.
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Nazi-Literatur passt perfekt ins heutige Russland
„Wir lasen Gedichtsammlungen von Z und sahen darin den blanken Nazismus. Wir hatten den Verdacht, dass sie in Nazi-Deutschland wahrscheinlich genau das Gleiche geschrieben haben, und es stellte sich heraus, dass wir Recht hatten“, teilten die Erfindet Gennady Rakitins, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben wollen, dem britischen „Guardian“ mit.
Laut den Aktivisten würden alle von ihnen übersetzten Nazi-Gedichte bis auf ein paar Anachronismen perfekt in den russischen Kontext passen. „Politisch gesehen zeigt dies, dass die Ideen des nationalsozialistischen Deutschlands den Ideen des modernen Russlands sehr nahe stehen, auch wenn Russland behauptet, den Nationalsozialismus zu bekämpfen“, schreiben die Aktivisten. „Kulturell zeigt es, dass es keine Renaissance der russischen Kultur gibt, wie die Behörden behaupten, sondern nur ihre Degradierung“.
Es war dabei immer vorgesehen, das die Kunstfigur Rakitin irgendwann die Masken fallen lassen würde, um den Unterstützern Putins zu zeigen, wie widerwärtig ihre Ideologie ist, so die Aktivisten. Dieser Punkt war nun gekommen: „Wir sind müde. Es war moralisch anstrengend, sich endlos in der Düsternis der russischen Z-Welt aufzuhalten“, teilten die Aktivisten mit. Und so zeigt Rakitin in seinem ersten selbst geschriebenen Gedicht sein wahres Gesicht: „Gennadi hat sich lange über / Z-Gedichte in seinem Feed lustig gemacht / Am Ende war seine Botschaft / Scheiß auf den Krieg“.
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