Berlin/Brüssel. Im Ukraine-Krieg befiehlt Wladimir Putin die Eroberung von Tschassiw Jar bis Donnerstag. Warum das bedrohlich ist und was Putin plant.

Dramatische Entwicklung im Ukraine-Krieg: In der Ostukraine erhöhen die russischen Truppen den Druck auf die ukrainische Armee – es fällt Dorf um Dorf, jetzt droht der Ukraine der Verlust der strategisch wichtigen Stadt Tschassiw Jar. Russlands Präsident Wladimir Putin hat den Befehl gegeben, bis zum 9. Mai – dem jährlichen „Tag des Sieges“ mit großer Militärparade – mit der Eroberung von Tschassiw Jar einen vorzeigbaren Erfolg zu erzielen, ist der ukrainische Geheimdienst sicher.

Parallel spielt Putin wieder mit der Angst vor einem Atomschlag: Demonstrativ gab er den Befehl für eine Übung der taktischen Nuklearstreitkräfte – also jener Einheiten, die im Ernstfall Atomwaffen kürzerer Reichweite innerhalb Europas einsetzen würden und theoretisch auch im Ukraine-Krieg.

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Das Verteidigungsministerium in Moskau begründete dies mit „provokanten Äußerungen und Drohungen“ aus dem Westen, womit etwa umstrittene Überlegungen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gemeint sind, der einen westlichen Bodentruppen-Einsatz in der Ukraine nicht ausgeschlossen hat. An dem Manöver nehmen Luft- und Seestreitkräfte teil sowie Truppen des südlichen Militärdistrikts - der grenzt an die Ukraine und umfasst auch die besetzten ukrainischen Gebiete.

Doch Kiews Vize-Geheimdienstchef Vadym Skibitsky räumt jetzt schonungslos ein, es sei wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis die Stadt fallen werde. Für Kiew eine Katastrophe: Nach dieser Eroberung könnten die russischen Truppen schnell weiter vorstoßen, mittelfristig wäre die gesamte Verteidigung des Donbass in Gefahr. Ukrainische Militärs sind sicher, dass Putin gefährliche Pläne für die nächsten Monate hat.

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Ukraine-Krieg: Russland zieht Soldaten um Tschassiw Jar zusammen

Die Entscheidungsschlacht hat bereits begonnen. Rund 25.000 Soldaten hat die russische Armee um Tschassiw Jar zusammengezogen, darunter auch Elite-Luftlandetruppen, was zeigt, wie hoch Moskau die Bedeutung der Stadt einschätzt. „Wir versuchen alles, um den russischen Eroberungsplan zu stoppen und einen Durchbruch zu verhindern“, sagt der ukrainische Heeres-Oberbefehlshaber Oleksandr Pavliuk. „Aber die Russen haben eine Überlegenheit bei der Artillerie von zehn zu eins und die totale Luftüberlegenheit.“ Das von Russland im vorigen Jahr eroberte Bachmut liegt nur zehn Kilometer weiter nordöstlich.

Der ukrainische Kompanieführer Stanislaw in Tschassiw Jar.
Der ukrainische Kompanieführer Stanislaw in Tschassiw Jar. © Mitya Kopitskiy | Mitya Kopitskiy

Diesen Vorteil hat die russische Armee jetzt

Fast ein Jahr brauchten die russischen Truppen, um von Bachmut bis an die Stadtgrenze von Tschassiw Jar vorzurücken. Aber jetzt spielt die Armee ihren Vorteil aus: Die ukrainischen Einheiten sind durch die endlosen Stellungskämpfe und den Munitionsmangel geschwächt, der Bau von Befestigungsanlagen hat spät begonnen. Der Militäranalyst Rob Lee sagt, nach den jüngsten Geländegewinnen kämen die Russen schneller voran. Die Armee habe ihre Taktik von der Söldnertruppe Wagner abgeguckt, meint Lee: Ihre Infanterie rückt in immer neuen Angriffswellen vor, nimmt enorme Verluste in Kauf, bis die ukrainische Verteidigungsposition erschöpft ist.

Dazu kommen russische Luftangriffen mit Dutzenden Gleitbomben täglich, die mit einer Ladung von 500 oder 1500 Kilo Sprengstoff verheerende Schäden auf der ukrainischen Seite anrichten: Krater von bis zu 6 Metern Tiefe und 20 Metern Breite. „Das macht schon Eindruck auf die ukrainischen Soldaten“, sagt der US-Militärexperte Michael Kofman.

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Die Russen haben die Bomben mit Flügeln und Navigationssystemen aufgerüstet, sodass sie nicht mehr direkt über dem Ziel abgeworfen werden müssen, weshalb die Flugzeuge schwerer erreichbar für die ukrainische Luftabwehr sind. „Diese Bomben sind sehr simpel, aber der einzige Schutz ist, die Flugzeuge abzuschießen“, sagt der ukrainische Außenminister Außenminister Dmytro Kuleba. Doch dafür fehlt es der Ukraine an Luftabwehr – erst wenn der Westen neue Abwehrsysteme und im Sommer erste F-16-Kampfjets liefert, könnte sich das Blatt werden.

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Ein von russischen Angriffen zerstörtes Wohnhaus in Tschassiw Jar in der Ostukraine.
Ein von russischen Angriffen zerstörtes Wohnhaus in Tschassiw Jar in der Ostukraine. © Mitya Kopitskiy | Mitya Kopitskiy

Tschassiw Jar: Russischer Durchbruch bis Donnerstag unwahrscheinlich

Zu spät für das zerbombte Tschassiw Jar. Die Russen greifen von drei Seiten an. Dass ihnen aber der Durchbruch bis zur Siegesparade am Donnerstag gelingt, bezweifeln westliche Militärexperten. Ein anderer möglicher Zieltermin könnte aber auch der 15. Mai sein, um dieses Datum herum wird Putin Chinas Präsident Xi Jinping in Peking besuchen und dort sicher gern Erfolgsmeldungen verkünden. Und dann? Westliche Militärs und die ukrainische Armeeführung rechnen damit, dass Russland nach einer Einnahme von Tschassiw Jar Ende Mai oder im Juni die Sommeroffensive beginnen und versuchen wird, zu größeren Städten wie Kramatorsk und Slowjansk vorzudringen, die zu einem Verteidigungsgürtel in der östlichen Region Donezk gehören.

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Russlandexperte Andras Racz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin sagt, nach dem Durchbruch könnte die russische Armee in offenem Gelände weiter vorstoßen: „Dort wird die Verteidigung extrem schwer.“ Russland mobilisiere derzeit 30.000 Soldaten monatlich, berichtet alarmiert der Nato-Oberbefehlshaber in Europa, Christopher Cavoli. Putins Truppe für die Ukraine sei schon von 360.000 auf 470.000 Soldaten aufgestockt worden. Für einen Angriff auf Charkiw zieht die russische Armee gerade bis zu 70.000 Soldaten zusammen.

Personalmangel in Russland: 100.000 zusätzliche Soldaten in die Ukraine?

Heeres-Kommandeur Pavliuk erwartet, „dass Russland 100.000 Soldaten zusätzlich mobilisieren möchte“, um die Truppen in der Ukraine während des Sommers weiter aufzustocken. Nicht nur für den Kommandeur ist klar: Russlands Ziel ist die komplette Besetzung der Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk und wenn möglich auch des Bezirks Saporischschja. Auch der ukrainische Geheimdienst geht davon aus, dass Russland jetzt vor allem seinen Plan zur kompletten Eroberung des Donbass vorantreiben wird. Doch offenbar wolle Putin für 2025 und 2026 auch große Teile der weiter westlich gelegenen Bezirke Dnipropetrowsk and Charkiw besetzen – die Ostukraine wäre auf einer Nord-Süd-Linie von Charkiw über Djnpr bis Saporischschja in russischer Hand.

Der russische Präsident Wladimir Putin verfolgt nach Einschätzung des ukrainischen Geheimdienstes einen Drei-Stufen-Plan zur Destabilisierung der Ukraine.
Der russische Präsident Wladimir Putin verfolgt nach Einschätzung des ukrainischen Geheimdienstes einen Drei-Stufen-Plan zur Destabilisierung der Ukraine. © AFP | Mikhail Metzel

Kurzfristig verfolgt Putin nach Einschätzung des ukrainischen Geheimdienstes einen Drei-Stufen-Plan, mit dem er die Ukraine destabilisieren will. Vizechef Skibitsky sagte dem britischen „Economist“, ein Faktor sei das Militär: Trotz der Zusage der USA für mehr Waffenhilfe werde die Ukraine vorerst militärisch weder bei Munition noch der Luftabwehr mit den Angreifern mithalten können. „Unser Problem ist ganz einfach: Wir haben keine Waffen.“ Faktor zwei sei eine Desinformationskampagne Moskaus, die die Mobilisierung in der Ukraine untergraben soll: Die Amtszeit von Präsident Wolodymyr Selenskyj läuft eigentlich Ende Mai ab, wegen des Krieges wurde sie unbefristet verlängert. Jetzt wolle Moskau mit einer Kampagne die Legitimität des Präsidenten infrage stellen. Drittens versuche Russland, die Ukraine international zu isolieren.

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Nato-General: Ukrainer verteidigen „sehr, sehr hart“

Dennoch gehen die meisten westlichen Militärexperten davon aus, dass Russland vorerst die Mittel fehlen für einen großen, strategischen Durchbruch. Militärexperte Kofman sagt, die Truppen werden die Dynamik nicht aufrechterhalten können. Auch Nato-Militärs in Brüssel glauben, der russischen Armee fehlten weiter die Ressourcen für eine große Offensive. Nato-General Cavoli sagt, einerseits verteidigten die Ukrainer „sehr, sehr hart“. Die Russen andererseits führten mit enormem Materialeinsatz kleine Aktionen aus, hätten aber Schwierigkeiten, Vorstöße einzelner Einheiten zu einer größeren Operation zusammenzufassen.

Die Ukraine dürfte wahrscheinlich im Sommer dank der US-Waffenhilfe die militärische Lage wieder stabilisieren können. Das große Ziel ist dann eine gut vorbereitete Gegenoffensive 2025. Wird sie den Krieg entscheiden? Vize-Geheimdienstchef Skibitsky hofft dann zwar auf Gegenwind für Russland, glaubt aber nicht, dass die Ukraine allein auf dem Schlachtfeld gewinnen könne. Der Krieg könne nur mit einem Vertrag beendet werden, meint Skibitsky. Sinnvolle Verhandlungen darüber könnten aber frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2025 beginnen.