Brüssel/Berlin. Der ukrainischen Armee stehen harte Wochen bevor. Ausgerechnet die neuen US-Waffenhilfen verschärfen die Lage – zum Vorteil der Russen.
Die Lage für die ukrainische Armee wird zunehmend kritisch angesichts knapper Munition und Lücken in der Luftverteidigung. Russische Truppen rücken mit einem Übergewicht an Soldaten und Material vor allem im Osten langsam weiter vor, zuletzt eroberten sie mehrere Dörfer westlich der von der Ukraine geräumten Stadt Awdijika, begleitet von Luftangriffen an vielen Frontabschnitten. Es dürfte erst der Anfang sein.
Westliche Militärexperten warnen vor weiteren Rückschlägen, wenn Russland jetzt den Druck erhöht. „In den nächsten Wochen wird es schlechte Nachrichten aus der Ukraine geben, darauf müssen wir vorbereitet sein“, sagt Andras Racz, Sicherheits- und Russlandexperte der Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin, unserer Redaktion: „Es werden sehr, sehr harte Wochen.“ Der russische Präsident Wladimir Putin werde wohl auf einen militärischen Erfolg bis zum 9. Mai drängen, wenn Russland mit Paraden den „Tag des Sieges“ feiert.
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Auch das Institute for the Study of War, eine Denkfabrik in Washington, befürchtet: „Russland wird in den kommenden Wochen wahrscheinlich erhebliche taktische Gewinne erzielen.“ Selbst der Chef der ukrainischen Armee, Olexander Syrskyj, räumt ein: „Die Lage an der Front hat sich verschlechtert.“ Dabei hatten die USA doch gerade erst neue Milliarden-Hilfen für die Ukraine zugesagt, in einer ersten Tranche sollen Granaten, Luftabwehrraketen, Raketen längerer Reichweiten, Panzer-Abwehrraketen und gepanzerte Fahrzeuge geliefert werden. Doch es gibt ein Problem.
Russland hat Zeitfenster bis Mitte Juni für militärische Erfolge
Die angekündigten Hilfen könnten die Lage kurzfristig sogar noch verschärfen. Zwar wisse die ukrainische Armee jetzt, dass sie mit ihren Beständen nicht mehr so haushalten müsse wie bisher und zum Beispiel mehr Munition einsetzen könne, meint Racz. Aber: „Eine durchgreifende Verbesserung dürfte es erst in etwa sechs bis acht Wochen geben.“ Das bedeute, dass die russische Armee ein Zeitfenster wahrscheinlich bis Mitte Juni haben werde, um Erfolge an der Front zu erzielen. „Wir müssen befürchten, dass sie dieses Zeitfenster nutzen werden.“
Vor allem westlich von Bachmut in der Donezk-Region ist die Lage heikel. „Wenn es dort zu einem Durchbruch kommt, könnte die russische Armee in offenem Gelände weiter vorstoßen, dort wird die Verteidigung extrem schwer“, meint Racz. Die russische Armee dürfte die Luftangriffe jetzt noch verstärken, um so viel Infrastruktur zu zerstören wie möglich, bevor die Ukraine Verstärkung für ihre Luftverteidigung erhält. Derzeit kann sie den Angriffen immer weniger entgegensetzen. Die Millionen-Stadt Charkiw steht unter täglichem Beschuss, der Bürgermeister fürchtet schon ein „zweites Aleppo“.
Armeechef Syrskyj sagt, man beobachte eine Verstärkung der russischen Truppen in Richtung Charkiw – entsprechend werden auch ukrainische Einheiten verlegt. „Die russischen Streitkräfte scheinen ihre Bemühungen zu intensivieren, die ukrainische Verteidigung zu destabilisieren und vor dem Eintreffen der amerikanischen Sicherheitshilfe an Boden zu gewinnen“, beobachtet das US-Institut für Kriegsstudien. Vor allem in der Region Awdijiwka gebe es für die Russen die Möglichkeit, bedeutende taktische Gewinne zu erzielen.
Russland hat kaum Geländegewinn in Größe West-Berlins erzielt
Offenbar versucht Russland auch, die Stadt Tschassiw Jar in der Nähe der vor einem Jahr von ihnen eingenommen StadtBachmut unter Kontrolle zu bringen. Das würde den Weg freimachen für den Vormarsch auf die starken Stellungen von Slowjansk und Kramatorsk. Der ukrainische Militärgeheimdienstchef Kyrylo Budanow erwartet diese und andere Offensiven etwa für Ende Mai. „Wir sind darauf vorbereitet und werden danach schauen, wie es weitergeht.“
Aber wie weit werden die Russen mit einer neuen Offensive kommen? Ihre Geländegewinne seit Jahresanfang belaufen sich auf etwa 400 Quadratkilometer – das ist noch nicht einmal die Fläche des früheren West-Berlins. Der Blutzoll ist hoch, die Ukraine spricht von 1300 verwundeten oder gefallenen russischen Soldaten an einem Tag. Ein größerer Frontdurchbruch der Russen könnte die Lage aber dramatisch verändern, hat der französische Präsident Emmanuel Macron gewarnt. Denn dann, so Macron, könnte die russische Armee nach Odessa oder gar nach Kiew vorrücken.
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Experte: „Krieg wird in hoher Intensität ein Jahr weitergehen“
Die Mehrzahl der Militärexperten winkt allerdings ab: „Die Ukraine hat ihre Verteidigungslinien beschleunigt ausgebaut“, sagt ein hochrangiger Nato-Vertreter im Brüsseler Hauptquartier, der nicht namentlich zitiert werden darf. Und der russischen Armee fehlten bis auf Weiteres die Ressourcen für eine große Offensive. Dafür hätten die Russen aktuell zu wenig Munition zur Verfügung, zu wenig Panzerverbände – und für einen großen Angriff auch zu wenig Soldaten.
Das Institut for the Study of War sieht das ähnlich. „Es ist unwahrscheinlich, dass die russischen Streitkräfte die ukrainische Verteidigung überwältigen werden.“ So seien zwar Geländegewinne, aber keine bedeutenden operativen Fortschritte zu erwarten. Das gilt allerdings auch für die ukrainische Armee. Experten rechnen mit deren Fähigkeit zu begrenzten Gegenoffensiven allenfalls ab dem Jahreswechsel.
Selbst wenn sich die Versorgung mit Munition und Luftabwehr entspannt, wird die ukrainische Armee weiter mit Personalmangel zu kämpfen haben – trotz der jetzt geplanten Mobilisierung. „Eine größere Anzahl zusätzlicher Soldaten wird frühestens Mitte des Sommers einsatzbereit sein“, sagt Sicherheitsexperte Racz. „Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass die Ukraine im Verlauf des Jahres eine Offensive starten kann. In diesem Jahr geht es für die Ukraine um eine Stabilisierung der Lage“, meint Racz. Damit ist auch absehbar: „Der Krieg wird in dieser hohen Intensität mindestens ein Jahr weitergehen.“
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