Tschassiw Jar. Unser Reporter besucht eine Frontstadt, wo russische Drohnen Jagd auf alles und jeden machen. Aber Aufgeben ist keine Option.

Svitlana macht sich Sorgen um die Nachbarn, die am Morgen in Kostjantyniwka beim Einkaufen durch die Explosion einer russischen Rakete verletzt wurden. Leben sie? Erst kürzlich sind eine Frau und ihr Sohn gestorben, die in ihrem Haus lebten. „Die Verletzten sind im Krankenhaus“, sagt Offizier Denys. Plötzlich kracht es wieder laut. Einschläge, nicht weit entfernt. Sie schaut den Soldaten müde an und fragt nach Zigaretten. Der Lärm des Krieges ist Alltag für sie.

Svitlana lebt in der gefährlichsten Stadt der Ukraine, sie gehört zu den wenigen Zivilisten, die in Tschassiw Jar geblieben sind. Die Russen zerschießen die Stadt seit Monaten zu einer Ruinenlandschaft. Sie ist derzeit das Hauptangriffsziel der russischen Armeeführung.

Gut eineinhalb Stunden vorher. An einem Treffpunkt in Kostjantyniwka hält ein schwerer Jeep. Denys steigt aus, er ist der stellvertretende Kommandeur eines Bataillons der 41. Brigade, die in Tschassiw Jar kämpft. Mit ihm wird es in die Stadt gehen. Der Offizier zieht die Splitterschutzweste an und den Gurt seines Helmes fest: „Wenn einer von uns etwas hört, halten wir an, springen aus dem Auto und legen uns flach auf den Boden.“

Svitlana sagt zum Abschied aus Tschassiw Jar: „Ich wünsche euch, dass euch ein Schutzengel begleitet.“
Svitlana sagt zum Abschied aus Tschassiw Jar: „Ich wünsche euch, dass euch ein Schutzengel begleitet.“ © Mitya Kopitskiy | Mitya Kopitskiy

Es sind nur 20 Kilometer. Aber die Fahrt ist riskant. Russische Drohnen sind ständig in der Luft und machen Jagd auf alles, was auf der Straße unterwegs ist. Denys quält den Wagen in hohem Tempo über den schlaglochübersäten Asphalt, zeigt in einem Dorf auf das Wrack eines Autos, das es vor Kurzem nicht in die Stadt geschafft hat.

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Als Tschassiw Jar erreicht ist, parkt der Offizier den Jeep unter einem Baum, der Sichtschutz geben soll. Im Laufschritt geht es zu einem der vielen Wohnblöcke, dann die Treppen hinunter in den Keller. Unten riecht es nach Essen, Schweiß, lange getragener Kleidung, Zigarettenqualm. Die Soldaten haben es sich hier eingerichtet, so gemütlich wie es eben in einem Keller geht.

Ein verschlissener Teppich auf dem Boden, Tische, Stühle, abgewetzte Sessel. An den Wänden lehnen Sturmgewehre und eine Gitarre. Auf einem Herd dampft ein Eintopf. Vor einem Monat sind die Männer von der Front bei Kupjansk im Norden hierhin verlegt worden. „Hier ist es viel heftiger. Die Russen greifen uns sehr hart an, es gibt viele Verluste“, sagt Stanislav, 29, Kompaniekommandeur.

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Ukraine-Krieg: Tschassiw Jar ist strategisch enorm wichtig

Tschassiw Jar liegt zwanzig Kilometer westlich von Bachmut, der Stadt, die monatelang heftig umkämpft war und im Frühjahr vergangenen Jahres von den Russen eingenommen wurde. Während der Schlacht war Tschassiw Jar Sammelpunkt für die ukrainischen Verteidiger. Jetzt versuchen die russischen Streitkräfte, die Stadt über die Flanken im Norden und Süden in den Würgegriff zu nehmen.

Sie ist strategisch enorm wichtig, weil sie auf einer Anhöhe liegt. Von hier aus könnten die Russen in Richtung nach Kramatorsk und Slowjansk vorstoßen, die beiden letzten größeren Städte in der Region Donezk, die sie noch nicht erobert haben.

Tiefe Krater klaffen auf den Straßen, ausgebrannte Autos säumen die Wege in Tschassiw Jar.
Tiefe Krater klaffen auf den Straßen, ausgebrannte Autos säumen die Wege in Tschassiw Jar. © Mitya Kopitskiy | Mitya Kopitskiy

Rund 25.000 Soldaten sollen es sein, die Moskau in die Schlacht schickt, berichtet der für den Frontabschnitt zuständige ukrainische Kommandostab. Es ist eine gewaltige Übermacht. Die Männer im Keller berichten von dem heftigen Beschuss, dem sie täglich ausgesetzt sind. Die Russen, sagen sie, setzten alles ein, was sie im Arsenal haben: Gleitbomben, Vakuumbomben, alle Arten von Artilleriemunition, international geächteten Phosphor. Die Artilleriemunition, die auf Tschassiw Jar niederhagelt, soll aus nordkoreanischer und chinesischer Produktion stammen, heißt es aus dem Kommandostab.

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Das russische Feuer trifft derzeit vor allem die Waldstücke vor der Stadt, in der die ukrainischen Verteidiger Position bezogen haben, und den Osten der Stadt, den ein Kanal vom Westteil trennt. Der Kanal ist eine Barriere, die mit gepanzerten Fahrzeugen schwer zu überwinden ist. Er schützt den Westteil der Stadt. Im Norden und Süden verläuft er aber unterirdisch. Hier versuchen die Russen durchzubrechen.

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Im Keller herrscht trotz des Dauerbombardements und der ständigen Angriffe russischer Stoßtrupps Zuversicht. „Wir haben viele Verletzte, aber die Situation ist unter Kontrolle“, sagt Sergej. Er ist 50 und hat sich mit seiner Frau und den beiden Söhnen freiwillig zur Armee gemeldet, als die Invasion aus Russland begann. Seine Aufgabe ist es, die Verwundeten aus der Kampfzone herauszuholen. Häufig liegen die Verletzten zwei oder drei Tage in den vordersten Positionen, bevor Sergej sie erreichen kann, so heftig ist der Beschuss. Vor wenigen Wochen hat er Männer gerettet, obwohl um ihn herum alles explodierte. „Ich hatte Angst, aber ich muss die Jungs da wegbringen. Das ist mein Job.“ Für seine Rettungsaktion soll Sergej jetzt mit einer Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet werden.

Funke-Reporter Jan Jessen geht mit Kompanieführer Stanislav durch die zerstörte Stadt.
Funke-Reporter Jan Jessen geht mit Kompanieführer Stanislav durch die zerstörte Stadt. © Mitya Kopitskiy | Mitya Kopitskiy

Der Kompanieführer ist verbittert, wenn er über die westlichen Partner spricht

Stanislav, dem jungen Kompanieführer, ist die Müdigkeit anzusehen. Er klingt verbittert, wenn er über die westlichen Partner der Ukraine spricht. „Die USA sagen uns, wir sollen nicht die russischen Ölraffinerien angreifen, weil dann der Ölpreis steigen könnte. Dann müssten die Wähler vielleicht mehr für die Gallone Sprit bezahlen, und sie würden sagen, dass alles schlimmer wird.“ Er atmet tief durch. „Aber wisst ihr, was unsere Leute durchmachen? Wie sich Familien fühlen, wenn ich sie anrufe und sie informiere, dass ihr Ehemann, Bruder, Sohn gestorben ist oder vermisst wird?“

Draußen deutet sich der Abend an. Denys, der stellvertretende Bataillonskommandeur, führt durch das, was einmal eine Stadt mit 13.000 Einwohnern war. Alle Häuser sind beschädigt oder zerstört, in manchen Wohnblocks klaffen große Löcher, fast alle Fenster sind zersplittert. Die Straßen sind voller Krater, Autowracks liegen vor Trümmerhaufen. Immer wieder sind der Donner von Explosionen und das Aufbrüllen von Artilleriegeschützen zu hören. An die Wand einer Ruine hat jemand geschrieben: „Russen, ihr werdet hierfür bezahlen!“ Auf einer anderen steht auf Englisch: „Wir bitten nicht um viel. Wir brauchen nur Artilleriegranaten und Flugzeuge. Den Rest übernehmen wir.“

Die Häuser in Tschassiw Jar sind ausgebrannt oder zerbombt. Nur noch sehr wenige Menschen halten es hier aus.
Die Häuser in Tschassiw Jar sind ausgebrannt oder zerbombt. Nur noch sehr wenige Menschen halten es hier aus. © Mitya Kopitskiy | Mitya Kopitskiy

In Taschissiw Jar leben nur noch etwa 700 Zivilistinnen und Zivilisten. Die meisten wollen nicht reden, sie wirken ausgelaugt, verängstigt. Svitlana, die vor ihrem Haus steht, hat heute Lebensmittel und neue Kleidung von Helfern bekommen, die die verbliebenen Einwohner versorgen. „Ich kann nirgendwo hin“, klagt sie. Sie habe nur eine Rente von umgerechnet knapp 100 Euro monatlich. Sie könne sich keine Mietwohnung leisten, wenn sie fliehen würde, sagt sie. Außerdem habe sie ihr ganzes Leben in Tschassiw Jar verbracht. „Hier liegen meine Eltern auf dem Friedhof und alle meine Verwandten. Es ergibt keinen Sinn für mich wegzugehen. Ich bin 69 Jahre alt. Wohin soll ich gehen?“

An diesem Tag zählen die ukrainischen Verteidiger 146 Bombardements, doppelt so viele wie am Tag zuvor. Tschassiw Jar versinkt in Schutt und Asche. Wie Bachmut. Svitlana sagt zum Abschied: „Ich wünsche euch, dass euch ein Schutzengel begleitet.“