Berlin. Im Krieg hat Russland derzeit die Oberhand und treibt die Ukraine massiv vor sich her. Militärexperte Masala sieht Orte in Gefahr.
Herr Masala, ein Blick an die Front: Wie ist die Lage vor Ort im Osten der Ukraine?
Carlo Masala: Es ist sehr kritisch. Die Russen haben einen Durchbruch bei Otscheretyne erzielt. Sie sind dabei, einen großen Angriff auf Tschassiw Jar zu versuchen. Gelingt es ihnen, dort einen Erfolg zu erzielen, sind auch die Orte Kostjantyniwka und Pokrowsk in Gefahr. Dann müssten sich die Ukrainer bis Kramatorsk zurückziehen. Das wird sich in den kommenden Wochen entscheiden.
Halten Sie es für wahrscheinlich, dass es dazu kommt?
Ja, das ist sogar sehr wahrscheinlich. Der stellvertretende Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes hat es gerade erst prognostiziert – die Ukraine wird sich aus Tschassiw Jar zurückziehen müssen.
Die USA werfen Russland vor, Reizgas eingesetzt zu haben. Was ist da passiert?
Vermutlich haben die Russen das Chlorpikrin mit Artilleriegranaten verschossen. Dadurch zwingen sie die Ukrainer, ihre Stellungen zu verlassen.
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Russland setzt inzwischen deutlich mehr Gleitbomben ein. Was müsste daraus für die Verteidigung der Ukraine folgen?
Die Ukrainer kriegen diese Gleitbomben nicht in den Griff. Dafür gibt es keine Lösung, denn es fehlt vor allem an den Fähigkeiten, diese Bomben abzufangen. Für die existierende Luftverteidigung fliegen sie aus zu großer Entfernung und so tief, dass sie von Radarsystemen kaum erfasst werden.
Carlo Masala
Er ist einer der bekanntesten Militärexperten in Deutschland. Masala (Jahrgang 1968) lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Konflikt in der Ukraine.
Immer wenn man denkt, die Taurus-Debatte sei abgeschlossen, erwähnt doch wieder jemand die Marschflugkörper – zuletzt Polens Außenminister Radek Sikorski, der Deutschland indirekt zur Lieferung ermuntert hat …
Der Kanzler hat die Debatte definitiv beendet. Da kann man sich auf den Kopf stellen, er hat sich festgelegt und wird keine Taurus liefern. Sehen Sie, er lässt sich keine Hintertür offen. Er könnte sagen: Abhängig vom Verlauf des Krieges prüfen wir das noch mal. Das sagt er nicht! Er will die Kontrolle über diese Systeme nicht aus der Hand geben.
Wird er das später einmal bereuen?
Ich denke, Spitzenpolitiker bereuen nie etwas.
SPD-Chef Lars Klingbeil sagt, man müsse die Ukraine mindestens noch zehn Jahre lang unterstützen. Sehen Sie dazu in Deutschland die Bereitschaft?
Das hängt von der Summe ab. Noch ist die deutsche Bevölkerung der Meinung, dass man das Land weiter mit Waffenlieferungen unterstützen sollte. Auch wenn das immer mehr schwindet und es sich nicht auf jede Waffe bezieht – bei Taurus etwa ist eine Mehrheit dagegen. Munition, Luftverteidigung und gepanzerte Fahrzeuge sind dagegen eher unstrittig. Das kann sich aber rasant ändern. Wir stehen jetzt vor neuen Haushaltsverhandlungen. Es ist klar: Da muss gekürzt werden, wenn die Schuldenbremse nicht reformiert wird. Ob die Bevölkerung dann noch bereit ist, den Ukraine-Etat hochzuhalten, wenn an anderer Stelle im Land gespart werden muss, ist fraglich.
Wie bewerten Sie Macrons jüngste Äußerungen zum Thema Bodentruppen in der Ukraine?
Man muss das einordnen: Er stellt drei Bedingungen. Erstens, die Russen müssen die Front durchbrechen. Zweitens, die Ukrainer müssen um Bodentruppen bitten. Drittens, die Franzosen müssen darüber beraten, ob sie welche schicken. Damit ist also längst nicht ausgemacht, dass Frankreich das machen wird. Außerdem versteht man ihn falsch, wenn man denkt, Macron wolle Bodentruppen schicken, um die Russen direkt zu bekämpfen. Er meint: Bodentruppen sollten Russen daran hindern, weiter vorzudringen. Denn damit würde sich Russland in einem Konflikt mit der Nuklearmacht Frankreich befinden. Es geht eher um eine Stabilisierung bei einem Durchbruch der Front, nicht um einen Eingriff in Kampfhandlungen. Frankreich könnte damit eine Barriere aufbauen, so verstehe ich Macron.
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Könnte Frankreich nicht an anderer Stelle noch mehr helfen?
Die Idee zu den Bodentruppen ist grundsätzlich richtig. Das Problem ist – genau wie bei vielen anderen europäischen Ländern –, dass Macron keine Ideen hat, wie man jetzt, in diesem Moment, die Ukraine ganz konkret mit Munition, Luftverteidigung und anderen Systemen unterstützen könnte.
Frankreich beteiligt sich offenbar finanziell nicht an der tschechischen Munitionsinitiative.
Ja, das liegt wohl daran, dass sie das nicht über die EU finanziert sehen wollen. Aus Frankreichs Sicht sollen mit EU-Geldern Geräte und Munition aus Europa gekauft werden. Das verzögert die Sache natürlich – so verfährt Frankreich aber schon seit Beginn des Krieges.
Der österreichische Außenminister Schallenberg sprach kürzlich mit Blick auf die rasante Entwicklung von KI auch im militärischen Bereich von „unserem Oppenheimer-Moment“. Er bezog sich auf die Entwicklung der Atombombe.
Netter Satz – im Kern ist der aber richtig. Je nachdem wie sich KI entwickelt, wird das einen Quantensprung beim Einsatz in Waffensystemen hervorrufen. Von daher kann man es schon mit der Entwicklung der Atombombe vergleichen. Es bezieht sich aber eher auf die Technologie als auf die Wirkung – egal wie wir KI künftig einsetzen werden, es wird in der Dimension immer weniger explosiv sein als eine Nuklearwaffe.
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Trifft es Sie, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Sie und andere Militärexperten vor Kurzem als „Kaliber-Experten“ verunglimpft hat?
Nein, das trifft mich überhaupt nicht. Steinmeier hat das im Zusammenhang mit dem Taurus gesagt, und damit seine eigene Unkenntnis über dieses Waffensystem offenbart – ich würde bei einem Marschflugkörper nie von „Kaliber“ sprechen. Wir sind solche Äußerungen seit der Rede von Rolf Mützenich gewohnt, dass aus gewissen SPD-Kreisen diejenigen verunglimpft werden, die eine andere Position vertreten als die Regierung. Da entfernt sich eher die SPD vom demokratischen Diskurs als wir Militärexperten.