Berlin. Mit seinen Aussagen irritiert SPD-Fraktionschef Mützenich auch die Regierungsparteien. Das Unverständnis wird zum Problem für Scholz.
„Erschöpfend“, findet es Rolf Mützenich. Immer und immer wieder werde nur über Waffen für die Ukraine diskutiert, kritisiert der SPD-Fraktionsvorsitzende. Er wolle deswegen jeden ermutigen, auch über lokale Waffenruhen und humanitäre Feuerpausen zu sprechen, um ein Ende der militärischen Gewalt zu erreichen. „Ich kann es nicht lassen, es tut mir leid.“
Rolf Mützenich ist ein Politiker der alten Schule. Der 64-Jährige ist höflich und verbindlich im persönlichen Umgang. Er schaut Gesprächspartnern in die Augen, bedankt sich für ihr Interesse. Likes und Klicks in sozialen Medien sind nicht seine Welt. Kritiker sehen den Sozialdemokraten jedoch nicht wegen seiner Umgangsformen als Mann der Vergangenheit, sondern aufgrund seiner politischen Positionen.
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Der Kölner hat seine Doktorarbeit 1991 über „Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik“ geschrieben. Mützenich ist Friedenspolitiker durch und durch. Seit Russlands Überfall auf die Ukraine wirkt Mützenich bisweilen aus der Zeit gefallen. Alle Welt redet über Waffenlieferungen und Aufrüstung, über Abschreckung und Atomgefahr. Dem Sozialdemokraten ist das zuwider.
Mützenich: Nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren kann
Mit Mützenichs Höflichkeit ist es deswegen auch vorbei, wenn die Hofreiters und Strack-Zimmermanns in der Koalition vom Kanzler mit immer drastischeren Worten immer schlagkräftigere Waffen für die Ukraine fordern. Sein Unbehagen über die aktuellen Debatten brach vergangene Woche im Bundestag aus dem Fraktionschef heraus: „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“, fragte Mützenich.
Den Krieg einfrieren? Außenministerin Annalena Baerbock saß kopfschüttelnd auf der Regierungsbank, Grüne und FDP waren entgeistert. „Dieser Typ war und bleibt der widerlichste deutsche Politiker“, empörte sich der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk. Der Auftritt warf die Frage auf, ob Mützenich angesichts der gescheiterten Gegenoffensive der Ukraine rhetorisch eine Kehrtwende der Bundesregierung vorbereitet – womöglich im Auftrag des Kanzlers.
Widerstand des Kanzlers: Taurus – Bei einem Satz schnaubt Olaf Scholz vor Wut
Olaf Scholz hatte im vergangenen Juni noch klar gesagt: Kein Land dürfe mit Gewalt versuchen, Grenzen zu verschieben. „Jetzt gilt es, einen ‚frozen conflict‘ zu vermeiden“, warnte der Kanzler damals. Putin müsse seine Truppen zurückziehen, „sonst wird es nicht gelingen, dass ein guter Frieden eintritt“. Mützenich gab Scholz trotz seines Haderns mit der Weltlage stets Rückendeckung für dessen Ukraine-Politik. Ist er jetzt die Vorhut für einen Kurswechsel?
Olaf Scholz: Handelte Mützenich im Auftrag des Kanzlers?
Mit seinem Nein zur Weitergabe des Marschflugkörpers Taurus hatte Scholz zuletzt eine rote Linie gezogen. Der Kanzler begründet seinen Kurs auch mit der Sorge in der Bevölkerung vor einer Eskalation des Konflikts mit der AtommachtRussland. Die Opposition warf der SPD daraufhin vor, Scholz vor den Wahlen in diesem Jahr als „Friedenskanzler“ inszenieren zu wollen. Mützenichs Auftritt im Bundestag geriet in den Verdacht, der nächste Akt zu sein.
Die Wortmeldung sei nicht im Auftrag des Kanzlers erfolgt, heißt es aus dem Umfeld des Fraktionsvorsitzenden. Es gehe auch nicht um einen Kurswechsel. Ein Ausrutscher sei die Wortwahl aber auch nicht gewesen. Mützenich selbst stellte klar, dass er an seinen Aussagen nichts zu korrigieren habe. Der Fraktionschef erläuterte aber, was er sich unter einem Einfrieren des Krieges vorstelle.
SPD uneins: Pistorius distanziert sich vom Fraktionschef
Er komme aus den Sozial- und Friedenswissenschaften, sagte Mützenich. „Dort wird das Einfrieren als Begrifflichkeit genutzt, um in einer besonderen Situation zeitlich befristete lokale Waffenruhen und humanitäre Feuerpausen zu ermöglichen, die überführt werden können in eine beständige Abwesenheit militärischer Gewalt.“ Voraussetzung sei aber die Zustimmung beider Kriegsparteien, die Bereitschaft bei Putin sehe er nicht.
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In der SPD wird eingeräumt, dass Mützenichs Wortwahl nicht ideal gewesen sei. „Ich hätte mir jetzt das Wort ‚Einfrieren‘ nicht zu eigen gemacht“, distanzierte sich Verteidigungsminister Boris Pistorius von der Aussage seines Parteikollegen. Schließlich könne man einen solchen Krieg nicht einfach einfrieren und dann hoffen, dass es besser werde. Scholz wiederholte den Ausdruck nicht. Er und Mützenich seien sich aber einig, dass die Ukraine so lange unterstützt werde wie nötig, hob der Kanzler hervor.
Ralf Stegner: Mützenich redet nicht von Permafrost
In der Bundestagsfraktion erhält Mützenich die Unterstützung verschiedener Flügel. „So wie es aussieht, wird keine Seite diesen Krieg gewinnen“, sagte der Parteilinke Ralf Stegner dieser Redaktion. Mützenich stelle daher die Frage, was neben der militärischen Unterstützung getan werden könne, um den Krieg zu beenden. „Er hat nicht gesagt, dass die Ukraine Gebiete abtreten soll. Er hat auch nicht von Permafrost gesprochen.“
Nils Schmid gehört zu den außenpolitischen Realpolitikern in der SPD-Fraktion. „Man tut Rolf Mützenich unrecht, wenn man ihn in die Ecke des aus der Zeit gefallenen und unverbesserlichen Pazifisten stellt“, sagte Schmid dieser Redaktion. „Er hat die letzten zwei Jahre dafür gesorgt, dass der Kanzler die notwendige Entscheidungsfreiheit hatte, die Ukraine auch mit Waffenlieferungen zu unterstützen.“ Dadurch solle die Ukraine Putin an den Verhandlungstisch zwingen können. „Dieser Moment ist allerdings noch nicht erreicht.“
Partei | Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) |
Gründung | 23. Mai 1863 |
Ideologie | Sozialdemokratie, Sozialstaat, Europäische Integration |
Vorsitzende | Saskia Esken und Lars Klingbeil (Stand: April 2023) |
Fraktionsstärke | 206 Abgeordnete im Bundestag (Stand: April 2023) |
Bekannte Mitglieder | Olaf Scholz, Karl Lauterbach, Frank-Walter Steinmeier |