Moskau. Nach dem Anschlag werden der Justiz gefolterte Verdächtige präsentiert – Menschenrechtler sind entsetzt. Und fürchten Schlimmeres.
Schon vor dem verheerenden Anschlag auf die Crocus City Hall in Krasnogarsk stand es schlecht um die Menschenrechte in Russland. Doch die Bilder von den laut Moskau tatverdächtigen Männern, die jetzt veröffentlicht wurden, heben die lange gehegten Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in dem Land auf eine neue Stufe.
Vier Männer wurden dem Haftrichter noch am Sonntag vorgeführt und angeklagt. Einer von ihnen hatte blaue Flecken im Gesicht und trug einen laienhaft gemachten Verband am rechten Ohr, ein anderer konnte nicht laufen und wurde, festgeschnallt an einen Rollstuhl, in den Gerichtssaal geschoben. Zuvor kursierte ein Video, in dem einem der Männer ein Ohr abgeschnitten wurde. Die Aufnahme konnte bisher nicht unabhängig überprüft werden. Ob es sich außerdem tatsächlich um Männer handelt, die mit dem Terroranschlag in Verbindung stehen, ist ebenfalls nicht belegt. Es wäre zumindest nicht das erste Mal, dass Zweifel an von Staatschef Putin genannten Verdächtigen aufkommen.
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Fest steht jedoch: Die laut Moskau tatverdächtigen Männer weisen Spuren körperlicher Misshandlung auf. Dabei ist die russische Verfassung in diesem Punkt klar. Kapitel 2, Artikel 21 besagt: „Niemand darf der Folter, Gewalt oder einer anderen grausamen oder die Menschenwürde erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ Die Realität ist seit Jahren eine andere. Laut Amnesty International (AI) ist Folter in Russland schon lange an der Tagesordnung.
Russland: Amnesty prangert erpresste Geständnisse an
Wie Janine Uhlmannsiek, Expertin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland, unserer Redaktion sagte, versuchen die russischen Behörden, durch Folter und Misshandlungen in Gefängnissen „,Geständnisse‘ zu erpressen“. Folter bleibe fast immer ungestraft, die Opfer hätten kaum eine Möglichkeit, juristisch dagegen vorzugehen.
Die Art der Misshandlungen sei dabei vielfältig. „Schläge, zum Beispiel durch mit Wasser gefüllte Plastikflaschen, Gewehrkolben, Knüppel und Stöcke, Drohungen und Anwendung sexualisierter Gewalt, Ersticken und Elektroschocks“, sagt Uhlmannsiek. Eine Form der Folter sei auch die Isolationshaft, der etwa Kreml-Gegner Alexej Nawalny zuletzt monatelang ausgesetzt war.
Russland: Politiker fordern Wiedereinführung der Todesstrafe
Uhlmannsiek berichtet von einem besorgniserregenden Trend an russischen Gerichten: „Wir beobachten bei Strafgerichten eine ausgeprägte Voreingenommenheit gegenüber den Angeklagten. Nur 0,4 Prozent der Angeklagten wurden freigesprochen oder ihre Strafverfolgung wurde von den Gerichten eingestellt.“ Die Gerichte würden die Beweise der Staatsanwaltschaft routinemäßig und ohne zu hinterfragen akzeptieren.
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Geständnisse, die unter Folter erzwungen worden seien, würden anstandslos angenommen. „Stichhaltige Beweise für die Unschuld von Angeklagten werden zurückgewiesen“, sagt Uhlmannsiek. Oftmals fänden Prozesse, insbesondere solche im Kontext von Terrorismus und Extremismus oder Hochverrat, unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Wie viele Menschen in Russland im Jahr von Folter betroffen sind, ist nicht erfasst. Einzelne Fälle werden von Amnesty International und anderen Organisationen immer wieder erfasst, doch einen systematischen Überblick gibt es nicht. Deshalb kann Amnesty auch keine Aussage dazu treffen, ob der Einsatz von Folter seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine zugenommen hat.
Diverse russische Politiker forderten kurz nach dem Anschlag die Wiedereinführung der Todesstrafe. Diese hatte Russland 1999 abgeschafft, mit Blick auf den Europarat und mögliche Ambitionen, enger an den Westen heranzurücken. Davon ist schon längst nicht mehr die Rede – und nun lassen kremlfreundliche Politiker alle Scheu fallen. Die Annahme liegt nahe, dass Wladimir Putin diese Äußerungen abgesegnet hat. Amnesty hält sie für „sehr besorgniserregend“.
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