Moskau. Kremlkritiker Alexej Nawalny hat sein Martyrium in einem sibirischen Straflager nicht überlebt. Über einen Mann mit eisernem Willen.
Kremlkritiker Alexej Nawalny ist tot. Diese Nachricht verbreitet am Freitagmittag die Gefängnisverwaltung – zunächst ohne Details zu nennen. Nur so viel: Nawalny habe sich auf einem Hofgang in einer sibirischen Strafkolonie plötzlich unwohl gefühlt und „sofort das Bewusstsein verloren“. Die alarmierten Ärzte, so heißt es weiter, hätten es nicht geschafft, den Häftling wiederzubeleben. Der russische Staatssender RT meldet wenig später, Nawalny sei an einem Blutgerinnsel gestorben, das sich gelöst hatte. Im Kreml habe man hingegen „keine Information über die Todesursache“ des Oppositionspolitikers.
Auch Nawalnys Team äußert sich zunächst ahnungslos. „Die russischen Behörden haben ein Geständnis publiziert, dass sie Alexej Nawalny im Gefängnis getötet haben. Wir haben keine Möglichkeit, das zu bestätigen.“ Sein Anwalt Leonid Solowjow sagt später der Zeitung „Nowaja Gaseta“: „Auf Entscheidung von Alexej Nawalnys Familie kommentiere ich überhaupt nichts.“ Es würden aber alle erforderlichen Untersuchungen durchgeführt. Julia Nawalnaja ergreift schließlich als Erste das Wort.
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Auf der Münchner Sicherheitskonferenz sagt sie am Freitagnachmittag, sie wisse nicht, ob die Nachricht vom Tod ihres Mannes stimme. „Aber wenn es der Wahrheit entspricht, dann will ich, dass Putin und all seine Mitarbeiter, seine Regierung und Freunde bestraft werden für das, was sie unserem Land, meiner Familie und meinem Ehemann angetan haben.“
Nawalny soll in Strafkolonie 27 Mal in Einzelhaft gesessen haben
Alexej Nawalny hatte ein jahrelanges Martyrium hinter sich. Erst vor Kurzem war er in die Strafkolonie IK-3 im autonomen Kreis Jamal-Nenzen verlegt worden. IK-3 in Sibirien ist auch bekannt unter dem Namen „Polarwolf“. Es ist die nördlichste Strafkolonie Russlands. Vor seiner Verlegung war Nawalnys Team in tiefer Sorge, es gab wochenlang kein Lebenszeichen von ihm. Schon damals gab es Spekulationen über eine ernsthafte Erkrankung. Erst in dieser Woche kamen nun Berichte hinzu, dass Nawalny bereits zum 27. Mal für eine Dauer von 15 Tagen in Einzelhaft gebracht worden sei.
Nawalnys großes Thema war die Korruption in Russland. Immer wieder legte er sich mit Oligarchen an, den Mächtigen aus Politik und Wirtschaft. Politisch war seine Karriere dagegen eher wechselhaft. Einige Jahre lang arbeitete er in der Oppositionspartei Jabloko, wegen nationalistischer Äußerungen musste er die Partei verlassen. 2013 kam er bei der Moskauer Bürgermeisterwahl auf respektable 27 Prozent der Stimmen. Als er im Sommer 2020 mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde, erhielt seine Oppositionsrolle eine internationale Bühne.
Nawalny war in einer Linienmaschine von Tomsk im Westen Sibiriens in Richtung Moskau geflogen, als ihm plötzlich unwohl wurde und er das Bewusstsein verlor. Zwei Tage wurde Nawalny nach einer Notlandung in einer Klinik in Omsk behandelt, bevor er auf Druck seiner Familie nach Deutschland, in die Berliner Charité, verlegt wurde. Dort kämpften die Ärzte um sein Leben, nach 32 Tagen konnte Nawalny das Krankenhaus verlassen. Bis heute sind die Umstände seiner Vergiftung unklar. Er selbst glaubte fest daran, dass dahinter Wladimir Putin steckte. Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Russland wurde er festgenommen.
Alexej Nawalny: Oppositioneller litt in Haft unter vielen Schikanen
Wegen „Extremismus“ war Nawalny zunächst zu neun Jahren Haft verurteilt worden, erst im August 2023 wurde die Strafe auf 19 Jahre erhöht. Das Gericht ordnete zudem seine Überführung in eine Strafkolonie mit schärferen Haftbedingungen an. Seine Bewegung wurde verboten, enge Mitarbeiter wurden inhaftiert oder flohen ins Ausland. Nawalny wies alle Vorwürfe als politisch motiviert zurück: Sie zielten darauf ab, seine Kritik an Präsident Putin verstummen zu lassen. Anfang Dezember hatte die russische Justiz weitere Beschuldigungen gegen Nawalny vorgebracht. Die Behörden warfen ihm Vandalismus vor, was laut Nawalnys Team eine weitere Haftstrafe von drei Jahren mit sich gebracht hätte.
Unter normalen Haftbedingungen leben Häftlinge im Straflager zusammen mit anderen Sträflingen in einem Schlafsaal, dürfen pro Jahr drei Pakete empfangen und monatlich für rund 70 Euro im Gefängnisladen einkaufen. Zudem seien Besuche erlaubt, weiß das Onlinemedium Meduza. Doch Alexej Nawalny lebte unter „verschärften Bedingungen“. Sprich: Zellentrakt statt Schlafsaal, weniger Einkauf, weniger Besuche und nur ein Paket pro Jahr. Derartige Haftbedingungen sind in Russland normalerweise nur für Gewohnheitsverbrecher, Mörder und Vergewaltiger vorgesehen. Und es gibt noch viele weitere Schikanen.
Häftlingen könne etwa verboten werden, mit ihren Mitgefangenen zu sprechen. Gefangene könnten gezwungen werden, sich auf dem Gefängnisgelände in gebeugter Haltung mit Handschellen auf dem Rücken zu bewegen. Nawalnys Unterstützer kritisierten, die russische Justiz wolle seinen Widerstand brechen und ihn als abschreckendes Beispiel für andere Regierungskritiker vorführen. Sie sprachen von Folter. International wurde Nawalny als politischer Gefangener angesehen.
Durch den Nowitschok-Giftanschlag war Nawalnys Körper geschwächt
In einem bei Instagram veröffentlichten Beitrag zum zweiten Jahrestag seiner Inhaftierung schrieb Nawalny, dass ihm in der Einzelhaft ein psychisch kranker Mann in eine Zelle gegenübergesetzt worden sei. „Er schreit 14 Stunden am Tag und drei in der Nacht“, teilte Nawalny mit. „Bekanntlich ist Schlafentzug eine der wirksamsten Foltern.“ Er habe viel erlebt und gelesen, aber das sei etwas Neues. „Alles, was Ihr lest über den Horror und die faschistischen Verbrechen unseres Gefängnissystems, das ist alles die Wahrheit. Mit einer Richtigstellung: Die Wirklichkeit ist noch schlimmer“, so Nawalny.
Menschenrechtler wiesen oft auf den angeschlagenen Gesundheitszustand Nawalnys hin. Sein Körper sei durch den Giftanschlag geschwächt, selbst an sich harmlose Erkältungserkrankungen könnten ihm gefährlich werden. Ärzte appellierten an Putin, er möge die ärztliche Behandlung von Nawalny sicherstellen. Bis zuletzt zeigte sich der abgemagerte und sichtlich geschwächte Politiker aber etwa in Gerichtsverhandlungen entschlossen in seinem Ziel, ein „Russland ohne Putin“ erreichen zu können.
Auch Ehefrau Julia hatte dem Strafvollzug geschrieben und gefragt, ob dort überhaupt noch Menschen arbeiteten. Sie beklagte, dass sie schon fast ein Jahr nicht mehr mit ihrem Mann habe telefonieren dürfen. „Briefe sind unser letztes Mittel der Verbindung.“ Doch zuletzt seien weder Briefe von Nawalny noch Schriftstücke an ihn zugestellt worden, sagte seine Sprecherin Kira Jarmysch Anfang Dezember. „Sie werden zur Rechenschaft gezogen und dieser Tag wird bald kommen“, erklärte Julia Nawalnaja. „Ich appelliere an die internationale Gemeinschaft und alle Menschen in der Welt: Wir müssen zusammenkommen und gegen dieses Böse kämpfen. Wir müssen dieses fürchterliche Regime in Russland bekämpfen.“
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