Berlin. Mehr Staus, Feinstaub und Zulauf für Carsharing-Anbieter: Die Streiks bei der Bahn entwickeln sich zum Konjunkturprogramm fürs Auto.
Mehr als 15 Millionen Bus- und Bahnreisende zählt die Deutsche Bahn täglich – eigentlich. Doch derzeit steht der öffentliche Verkehr immer wieder streikbedingt still. Fahrpläne dürfte so mancher Pendler kaum mehr als Mitnahmegarantie, sondern höchstens noch als Empfehlung interpretieren. Mit jedem weiteren Streik wird das Bahnticket zum Wettschein.
Millionen Reisende sind daher zum Ausweichen auf andere Verkehrsmittel gezwungen, um ihre Arbeitsstelle, den Ferienort oder Arzttermin rechtzeitig zu erreichen. Statt voller Busse und Bahnen rollen wegen der Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) oder der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) immer mehr Autos über deutsche Straßen.
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Vor allem zu den Pendelzeiten und insbesondere rund um Ballungsgebiete komme es daher an Streiktagen zu mehr Staus und Behinderungen, sagt Katharina Lucà vom ADAC. „Sind die Streiks kürzer und vorher angekündigt, können viele Menschen noch reagieren, Termine verschieben oder wenn möglich im Homeoffice arbeiten“, so die Sprecherin. „Sind die Streiks länger oder werden im Vorfeld gar nicht angekündigt, sind die Auswirkungen auf die Verkehrssituation größer.“
Uber und Miles an Streiktagen stark nachgefragt
Exemplarische Stau-Zahlen machen den Effekt der Ausstände deutlich. So gab es nach Zählungen des ADAC am 6. März, ein Streiktag, 1871 Staus auf deutschen Autobahnen. Genau eine Woche zuvor, an einem regulären Mittwoch, waren es nur 1696. Noch ein Beispiel: Am 8. März, einem Freitag und weiteren Streiktag, gab es bundesweit 1526 Autobahn-Staus, am 1. März nur 1369. Der ADAC wertet ausschließlich Autobahn-Staus aus.
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Zudem komme es während der Streiks gerade regional zu größeren und längeren Staus. so der Automobilclub. Etwa im Ruhrgebiet, rund um München, Berlin oder Köln „war wahnsinnig viel los“, sagt Lucà – vor allem zur Pendler-Spitzenzeit zwischen sieben bis acht Uhr morgens. Zu einem weiträumigen, massiven Verkehrschaos führten die Streiks nach ADAC-Beobachtungen aber nicht.
Offenbar setzen selbst Pendler ohne eigenes Fahrzeug an Streiktagen vermehrt auf das Auto. Beim Sharing-Anbieter Free2move beziehungsweise Share Now erhöhe sich die Nachfrage um 50 bis 60 Prozent, sobald GDL oder Verdi zum Ausstand aufrufen. Diese besonders hohe Auslastung der Flotte sei ganztägig und sowohl für kurze Fahrten als auch für Langzeitmieten und Vorbuchungen zu beobachten, sagt eine Sprecherin dieser Redaktion.
Mehr Feinstaub an Streiktagen? So ist die Datenlage
Von einer erhöhten Nachfrage an Streiktagen berichtet auch ein Sprecher der Taxi-Alternative Uber, die sich in 18 deutschen Städten per App bestellen lässt. Der Carsharing-Riese Miles verzeichnet nach eigenen Angaben ebenfalls bei Ausständen einen deutlichen Anstieg an Mieten und Neukunden. „Insbesondere morgens, nachmittags sowie abends, also zu Zeiten, in denen der ÖPNV normalerweise stark ausgelastet ist“, teilt eine Sprecherin mit.
Wo mehr Autos fahren, dürften mehr Abgase und Feinstaub in die Luft geblasen werden. Ensprechende Studien zum aktuellen Streikgeschehen fehlen. Doch die stichprobenartige Betrachtung der Luftdaten von mehr als 350 Messtationen in ganz Deutschland aus dem Umweltbundesamt (Uba) lässt eine Annahme zu: So lag der bundesweite Durchschnittswert für Feinstaub (PM10) am 9. Januar bei 20,3 Mikrogramm pro Kubikmeter. Am Tag darauf, ein Streiktag, waren es 34,8.
Ähnlich verhält es sich bei der Betrachtung vergleichbarer Daten: Am 23. Januar lag der bundesweite Feinstaub-Mittelwert bei 12 Mikrogramm pro Kubikmeter, am 25. Januar – ein Streiktag – bei 18,6. Ob die erhöhten Werte maßgeblich auf das Streikgeschehen zurückzuführen sind, gibt die Datenlage nicht wieder, da auch meteorologische Bedingungen die die Schadstoffbelastung stark beeinflussen. Vermuten lässt es sich angesichts früherer Untersuchungen jedoch.
Autoverkehr an Streiktagen: Morgens 20 Prozent mehr Unfälle
Stefan Bauernschuster, Ökonom an der Universität Passau und Forschungsprofessor am ifo Institut München, hat 2017 eine umfangreiche Forschung zu den Effekten von Verkehrsstreiks veröffentlicht. Den Daten zufolge verlängern sich die Fahrzeiten von Autopendlern an einem Streiktag am Morgen um elf Prozent sowie über den ganzen Tag betrachtet um vier Prozent. Die Zahl der Verkehrsunfälle steige um acht Prozent, am Morgen sogar um 20. Auch ist die Feinstaubbelastung laut Bauernschusters Forschung stark erhöht: morgens um ganze 26 Prozent.
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Vermutlich infolgedessen gebe es an Streiktagen 18 Prozent mehr diagnostizierte Atemwegsstörungen, von denen vor allem Kinder betroffen seien. Aus wissenschaftlicher Sicht seien die Daten von 2017 noch gar nicht so alt, sagt Bauernschuster. Allerdings gelte es zu beachten: Die GDL-Streiks betreffen vor allem überregionale Bahnlinien, weshalb es in den Städten vermutlich geringere Effekte gebe, als in seiner Publikation beschrieben. Zudem könnten die heutigen Homeoffice-Möglichkeiten die Auswirkungen schmälern, mutmaßt der Wissenschaftler.
Streik-Effekte kosten die Volkswirtschaft viel Geld
Nichtsdestotrotz verursachen laut Bauernschuster die Nebenwirkungen von Streiks – negative Effekte auf die Gesundheit, Zeitverluste bei Arbeitnehmern und im Fall von bestreiktem Güterverkehr auch unterbrochene Lieferketten – hohe volkswirtschaftliche Kosten. Und die träfen nicht nur die Deutsche Bahn als Arbeitgeber, sondern auch unbeteiligte Dritte. Andreas Knie, Verkehrsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), sieht das ähnlich. Ihn besorgen vor allem die mittel- und langfristigen Effekte der Streiks.
Knie zufolge verliert die Bahn in den Augen vieler Reisender stark an Zuverlässigkeit. „Man sägt den Ast ab, auf dem man sitzt. Das finde ich unverantwortlich“, sagt Knie in Richtung der GDL. Betroffene vom Streik seien mittlerweile stark genervt und „jetzt ist auch bei den Gutwilligsten das Maß voll.“ Für die Verkehrswende sei das ein „herber Rückschlag“, lautet die Einschätzung des Verkehrsexperten. „Das Auto ist der Sieger des GDL-Streiks, und das nicht mal nur kurzfristig“, sagt er. So mancher Pendler stelle nunmehr für sich fest: „Am Ende ist doch das Auto der einzige Verkehrsträger, der verlässlich fährt.“