Berlin. Immer mehr Autos und Fahrräder. Seit Jahren sinkt die Zahl der schweren Unfälle nicht so stark, wie die Politik es will. Was sind die Ursachen?

Es ist nur ein Bruchteil einer Sekunde, ein Augenblick. Doch er hat das Leben von Beate Flanz komplett verändert. Die heute 55-Jährige erinnert sich noch gut an ihre Gedanken in dem Moment: „Der fährt mich doch jetzt nicht über den Haufen? Wieso sieht er mich denn nicht?“ Mit ihrem Fahrrad radelte sie eben noch über eine Kreuzung in Berlin, Stadtteil Wilmersdorf. Kurz darauf wacht sie auf, alles um sie herum ist schwarz. Sie spürt keine Schmerzen, nur ein unangenehmes Gefühl – als drücke ihr der Sattel ins Kreuz.

Doch nicht der Sattel verursachte dieses Gefühl – es war ihre zertrümmerte Hüfte, die durch den schweren Unfall verrutscht ist. Ein Kieslaster hatte die Berlinerin zunächst mitgerissen, dann wurde sie von den Reifen des Anhängers überrollt. Seit dreißig Jahren fuhr Flanz über diese Kreuzung, wie immer trug sie an jenem Tag im Oktober 2017 Warnweste, Fahrradhelm und reflektierende Taschen. Sie kennt die Gefahren, den Berliner Verkehr, die Wucht der Lastwagen, die Risiken der toten Winkel. Doch an dem Tag ist sie machtlos.

Nach dem Unfall verlor Beate Flanz ihr rechtes Bein. Ihren rechten Arm kann sie nicht mehr benutzen und eine Gesichtshälfte ist gelähmt.
Nach dem Unfall verlor Beate Flanz ihr rechtes Bein. Ihren rechten Arm kann sie nicht mehr benutzen und eine Gesichtshälfte ist gelähmt. © Privat | Privat

Der mit 32 Tonnen Kies beladene Lkw kam von hinten angefahren und reduzierte seine Geschwindigkeit kaum. So erzählt es Flanz heute. „Dadurch, dass er so im Schwung war, hat er mich noch voll erwischt.“ Durch den Unfall verliert sie ihr rechtes Bein, ihr Arm hängt schlaff am Körper und die rechte Gesichtshälfte ist gelähmt. Ohne fremde Hilfe könne sie nichts mehr machen. „Das ist ja nicht nur vorübergehend, das ist für den Rest meines Lebens!“, sagt sie bitter. Ein Gericht verurteilte den Fahrer des Kiesladers zu sechs Monaten Haft, die Strafe wurde zu zwei Jahren auf Bewährung ausgesetzt.

Straßenverkehr: Zahl der Getöteten oder schwer Verletzten sinkt nur langsam

Die Straße ist in Deutschland ein Gefahrengebiet. Vergangenes Jahr starben 2782 Menschen bei Unfällen, mehr als 350.000 Teilnehmende im Verkehr wurden verletzt, teilweise schwer. Viele Jahrzehnte gingen die Todesfälle im Verkehr nach unten, 1970 starben jedes Jahr noch fast 20.000 Menschen auf der Straße. Gurte, Airbag, Alkoholgrenzen, Fahrassistenten brachten einen Durchbruch bei der Sicherheit.

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Doch mittlerweile sinken die Zahlen von Getöteten und schwer Verletzten nur noch langsam – oder bleiben konstant. „Die Politik verfehlt ihr selbstgestecktes Ziel, die Zahl der Getöteten im Straßenverkehr deutlich zu reduzieren“, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Das Ziel von 2021 war: 40 Prozent weniger Getötete bis 2030.

Die Meldungen allein der letzten Monate sind Seismograf im Risikoraum Straße: Im Februar überrollte ein Lastwagen eine Radfahrerin in der Hamburger Hafencity. In Darmstadt soll eine Kreuzung neu geplant werden, nachdem auch dort eine 30-Jährige überfahren wurde. Im Brandenburgischen Finsterwalde erfasste ein Tanklaster eine Frau, auch sie starb.

„Der andere könnte immer ein Hindernis für das eigene Vorankommen sein“

Mehr als 700 Milliarden Kilometer fahren die Deutschen jedes Jahr auf ihren Straßen. Das ist so viel, damit könnte eine Rakete um alle Planeten im Sonnensystem düsen und wäre noch längst nicht angekommen. Und die Straßen sind voller geworden: 223.000 Autos ließen die Hersteller 2022 neu zu. Die Fahrzeuge werden breiter, wuchtiger.

Aber auch mehr Fahrräder drängen auf die Straßen, immer mehr mit Elektromotor, hinzu kommen Tausende E-Scooter. Mit einer Folge: Die Zahl der Unfälle steigt deutlich an, seit Jahren. 2022 registrierte die Polizei mehr als 2,4 Millionen.

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Zwischen alldem muss der Fußgänger sicher über die Kreuzung kommen. Rund 27 Millionen Deutsche haben keinen Führerschein, darunter gut 13 Millionen Kinder und Jugendliche. Die Straße ist auch zur Arena geworden, es geht um die Freiheit des Fahrens, mit Motor oder ohne. Es geht aber auch um den Kampf um öffentlichen Raum – und wer ihn wie nutzen darf. Auto versus Fahrrad, E-Bikes versus E-Scooter, dazwischen Lastwagen und Motorräder.

Eigentlich ist es Fortbewegung von A nach B – doch längst ist Mobilität auch zur Ideologie geworden. „Wir erleben eine Polarisierung der Gesellschaft in vielen Bereichen. Das spiegelt sich auch im Straßenverkehr wider“, sagt Unfallforscher Brockmann. Im Verkehr passiere es schnell, dass ein Mensch sich in seiner Freiheit durch andere eingeschränkt sieht. „Wir wissen noch nicht, welche Auswirkungen wachsende Polarisierung in der Gesellschaft auf den Verkehr haben wird. Aber wir müssen das im Blick behalten.“

40 Prozent der Unfälle werden von Radfahrern verursacht

Auch Verkehrspsychologe Wolfgang Fastenmeier sieht eine Mentalität nach dem Motto: Jeder gegen jeden. „Der andere könnte immer ein Hindernis für das eigene Vorankommen sein.“ Das liege hauptsächlich daran, dass die Fahrausbildung zu sehr auf der Regelorientierung und Verkehrsordnung beruhe, so Fastenmeier. „Verkehrsteilnehmer lernen nicht, auch einmal die Perspektive des Anderen einzunehmen.“ Doch auch er sagt, dass Forschungsdaten über eine tatsächliche Zunahme der Aggressivität im Verkehr fehlen.

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Um der Ideologie etwas entgegenzustellen, lohnt ein genauerer Blick auf die Zahlen. Oftmals bestimmen schwer verletzte oder getötete Radfahrende die Schlagzeilen. Doch nicht immer sind Autofahrer verantwortlich. Ein Drittel aller getöteten Radfahrenden im Verkehr sterben bei sogenannten Alleinunfällen. Kein anderer ist beteiligt, der Fahrradfahrer stürzt, ist abgelenkt, verkantet sich in einer Straßenbahnschiene, schaut auf sein Handy. Bei Unfällen mit anderen Verkehrsteilnehmenden ist meist der Autofahrer schuld, aber auch der Radfahrer trägt in 40 Prozent der Fälle für den Vorfall Verantwortung.

Doch egal, wer die Schuld trägt – fast immer sind Radfahrerinnen und Radfahrer oder Fußgänger die Geschädigten. 2022 kam es zu 148 Todesfällen, bei denen Radfahrer und andere Verkehrsteilnehmer beteiligt waren, in der Regel Autos und Lastwagen. 141 Mal starb der Radfahrer. Lastwagen verursachen wenige Unfälle, doch wenn es passiert, sind die Folgen oft fatal. Seit mehr als zehn Jahren bleibt die Zahl der getöteten Radfahrer hoch – und geht nicht runter.

Das Fahrrad von Bate Flanz nach dem Unfall.
Das Fahrrad von Bate Flanz nach dem Unfall. © Privat | Privat

Das Straßenverkehrsgesetz will seit Jahrzehnten„Sicherheit und Leichtigkeit“ durchsetzen – lange galt das vor allem für Autofahrer. Der „Verkehrsfluss“ ist noch immer hohes Gut des deutschen Auto-Kults. Doch die Politik in Bund, Ländern und Kommunen will mehr Fahrräder auf die Straßen bringen. Das ist das erklärte Ziel, vor allem weil Verkehr auch das Klima stärker schonen muss. Städte bauen Fahrradspuren aus, fördern Lastenräder, richten autofreie Zonen ein. Aber Unfallforscher Brockmann warnt: „Zu wenig macht sich die Politik Gedanken darüber, wie die Fahrradfahrenden dann auch besser zu schützen sind.“

Größte Gefahren für Radfahrer sind Abbiegeunfälle und Autotüren

Grünen-Politikerin Swantje Michaelsen will das alte Dogma aufweichen und das Prinzip der Gefahrenabwehr durch ein Präventionsprinzip ergänzen. „Damit Kommunen Sicherheitsmaßnahmen vornehmen können, ohne dass an einer Kreuzung oder auf einer Landstraße Menschen sterben müssen“, sagt Michaelsen. Das Ziel der Ampel-Koalition: das Straßenverkehrsgesetz modernisieren.

Vor allem zwei Gefahren gibt es nach Einschätzung von Fachleuten für Radfahrende. Zum einen: Abbiegeunfälle. Gerade bei Kreuzungen und auch Einmündungen an Auffahrten zu Tankstellen und Supermärkten kommt es dazu: Autofahrer oder Lkw-Führer sehen Radfahrer nicht über die Seitenspiegel, technische Assistenzsysteme schlagen keinen Alarm, oder sind gar nicht eingebaut. Erst seit Sommer 2022 sind die technischen Warnmelder nach einer EU-Regel für bestimmte Fahrzeugtypen Pflicht, ab 2024 dann für alle – allerdings nur bei Neuwagen. Der Bund fördert die Umrüstung.

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Seit 2010 hat das Verkehrsministerium Geld für Prävention von Verkehrsunfällen von 10,77 Millionen Euro auf heute 15,4 Millionen Euro erhöht. Heute startet die bundesweite Initiative #mehrAchtung im Rahmen der Kampagne „Runter vom Gas“. Zahlreiche Partner wie der Deutsche Städtetag unterstützen sie. Das Ziel: mehr Achtsamkeit und Rücksicht auf der Straße. Die zweite große Gefahr im Verkehr: Zusammenstöße von Radfahrern mit geöffneten Türen parkender Autos. Immer wieder stehen Autos am Rand der Straße, nicht immer illegal. Oft aber parken sie auch auf Fahrradstreifen, kommt es zum gefährlichen Umfahren, öffnet der Fahrer plötzlich seine Tür. „Dooring“ nennen Fachleute diese Unfälle.

Effekte des Tempolimits sind umstritten

Forscher Brockmann rät: Kreuzungen sowie Einmündungen gerade an Tankstellen und Supermärkten, aber eben auch Nebenstraßen müssten besser durch Ampeln geschützt werden. Sind die Ampeln so geschaltet, dass Radfahrer grün und Autos rot haben, ist die Gefahr eines Zusammenstoßes geringer. Auch bessere Sichtbeziehungen durch Wegfall von Parkflächen in den Straßen und sogenannte Sicherheitstrennstreifen zu parkenden Autos für Radfahrer hält Brockmann für wichtig.

Seit Jahren debattiert die Politik über ein schärferes Tempolimit. Effekte auf die Verkehrssicherheit sind umstritten. Studien zeigen zudem, dass sich Raser durch höhere Bußgelder wenig abschrecken lassen – vielmehr wirkt mehr Kontrolle, durch Blitzer und Polizeistreifen etwa.

 Mit ihrem dreirädrigem Liegerad versucht Beate Flanz mobil zu sein.
 Mit ihrem dreirädrigem Liegerad versucht Beate Flanz mobil zu sein. © Privat | Privat

Der CDU-Verkehrsexperte Thomas Bareiß wirft der Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP vor, dass sie „aktuell nichts für die Verkehrssicherheit“ tue. „Es fehlt eine Maßnahmen-Offensive“, sagt Bareiß. Er fordert etwa die stärkere Förderung zum Einbau von Fahrassistenten vor allem bei Lastwagen und Bussen. Und Bareiß sagt: „Die Nutzung von Helmen auf dem Fahrrad muss immer mehr obligatorisch werden. Eine kleine Maßnahme, die jeder in der Hand hat und viel Nutzen bringt. Notfalls muss hier auch eine verpflichtende Regel geschaffen werden.“

Für Radfahrerin Beate Flanz hat sich mit dem Unfall ihr ganzes Leben verändert. Mit einem freundlichen „Hallo“ geht sie ans Telefon, doch die Spuren des Unfalls zehren an ihr. „Die Tage, an denen ich nicht geweint habe bisher, können sie an einer Hand abzählen“, sagt Flanz. Auf das Fahrrad ist sie nicht sauer nach dem Unfall: „Das war ja wie ein guter Freund von mir“, sagt sie. Erst vor kurzem hat sie es entsorgt. Stattdessen versucht sie, mit einem dreirädrigen Liegerad mobil zu bleiben.

Was sie sich allerdings wünscht, das ist mehr Hilfe für die Opfer: „Man sollte vor allem versuchen, die Opfer zu rehabilitieren“, sagt sie. Auf ihren Unfall blickt sie ohne Wut. „So etwas passiert immer, es gibt immer menschliches Versagen.“ Dennoch wünscht sie sich, dass alle Teilnehmer im Straßenverkehr die Ignoranz für die andere Seite beenden. „Es bricht sich doch keiner einen Zacken aus der Krone, wenn er doch noch einmal fünf Minuten länger stehen bleibt.“