Brüssel/Berlin. Die EU beschließt schärfere Grenzwerte für Luftschadstoffe: Viele Städte überschreiten sie. Die deutsche Wirtschaft schlägt Alarm.
In vielen Städten Deutschlands steht neuer Streit um Fahrverbote für Autofahrer bevor: Grund ist ein neues EU-Gesetz zur Luftreinhaltung, auf das sich Unterhändler von EU-Parlament und Rat der Mitgliedstaaten am Dienstagabend verständigt haben. Die Richtlinie zur Luftqualität sieht nicht nur viel strengere Grenzwerte für bestimmte Schadstoffe vor, sondern auch einen einklagbaren Anspruch auf Schadenersatz für gesundheitliche Schäden, wenn diese Grenzwerte nicht eingehalten werden - die Kommunen geraten damit in Zugzwang.
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Die deutsche Wirtschaft schlägt kurz nach der Einigung Alarm: „Die neue EU-Luftqualitätsrichtlinie kann in Deutschland zu unzumutbaren Eingriffen in Wirtschaft, Mobilität, Landwirtschaft und Wohnen führen“, erklärte Holger Lösch vom Bundesverband der deutschen Industrie (BDI). Der Vize-Hauptgeschäftsführer warnte: „Weitreichende Fahrverbote für Pkw und Lkw sind wieder denkbar.“ Es sei völlig unrealistisch, die neuen Luftgrenzwerte wie gefordert bis 2030 einzuhalten – der Gesetzeskompromiss werde den gleichzeitigen Umbau der Industrie zur Klimaneutralität verzögern oder sogar verhindern.
Kern der Luftqualitäts-Richtlinie: Die Grenzwerte für entscheidende Schadstoffe wie Stickoxid und Feinstaub sollen bis 2030 ungefähr halbiert werden. In vielen Städten Deutschlands liegen die Messwerte aber an besonders belasteten Straßen derzeit so deutlich über der geplanten Grenze, dass die Einhaltung der neuen Vorgaben bis 2030 ohne Fahrverbote schwer bis unmöglich sein dürfte.
EU-Pläne für saubere Luft: in vielen Städten kaum umsetzbar
Die Europäische Union begründet die Verschärfung damit, dass Luftverschmutzung für rund 300 000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr verantwortlich sei. Die Union orientiert sich bei den neuen Vorschriften an aktualisierten Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Schadstoffbegrenzung, die 2021 veröffentlicht wurden. Bei Stickstoffdioxid wird der Grenzwert für die durchschnittliche Jahresbelastung von heute 40 Mikrogramm je Kubikmeter Luft auf 20 Mikrogramm gesenkt – die WHO hatte sogar 10 Mikrogramm empfohlen. Die Grenzwerte für Feinstaub sollen von heute 25 Mikrogramm auf künftig zehn Mikrogramm reduziert werden. Die WHO hatte ihre Empfehlung auf fünf Mikrogramm abgesenkt.
Während Stickoxid ein Problem bei Verbrennungsmotoren ist, könnten die Auflagen für Feinstaub auch für zum Hindernis werden – die schädlichen Partikel entstehen unter anderem durch Abrieb von Reifen und Bremsen. Das Problem: Die Grenzwerte werden zur Zeit großflächig überschritten. Eine Auswertung etwa für Nordrhein-Westfalen zeigt, dass dort aktuell an 77 Prozent der Messstellen die neuen Grenzwerte nicht erreicht werden. Gegen die Gesetzespläne hatten deshalb in Deutschland Kommunen und Wirtschaftsverbände protestiert - offenbar nicht wirklich erfolgreich.
Die Sorge der Städte fasste Städtetagspräsident Martin Lewe vor einigen Monaten gegenüber unserer Redaktion so zusammen: Die Städte könnten mit Verfahren überzogen werden, „ohne selbst Einfluss auf den Schadstoffausstoß vor Ort nehmen zu können“. Der ADAC mahnte während der Gesetzesverhandlungen, die Verbraucher nicht zu überfordern. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) warnte im Vorfeld, absehbar seien nicht nur neue Umweltzonen und Fahrverbote. „Zusätzlich müssten das Verkehrsaufkommen reduziert sowie Feuerungs- und Industrieanlagen nachgerüstet oder eingeschränkt werden“, erklärte die Wirtschaftsorganisation.
Die Luftqualität in deutschen Städten hat sich deutlich verbessert
In vielen Städten Deutschlands und anderer EU-Mitgliedstaaten waren jahrelang die derzeit geltenden Grenzwerte nicht eingehalten worden, 2017 wurde hierzulande an 65 städtischen Messstellen die erlaubte Jahresbelastung überschritten: Die EU-Kommission leitete Verfahren gegen Deutschland ein, die Deutsche Umwelthilfe setzte gerichtlich Fahrverbote durch. Die Lage hat sich aber deutlich verbessert. 2022 wurden die Grenzwerte laut Umweltbundesamt nur noch in der Essener Kruppstraße und der Landshuter Allee in München leicht überschritten.
Das neue EU-Gesetz will als radikale Neuerung auch einen Anspruch auf Schadenersatz für Bürger einführen, die durch Luftverschmutzung jenseits der Grenzwerte gesundheitliche Schäden erleiden. Parlament und Rat erklärten zu der vereinbarten Regelung: „Betroffene Bürger und Umwelt-NGO soll Zugang zu Gerichten gewährt werden, um die Umsetzung dieser Richtlinie in den Mitgliedstaaten anzufechten, und die Bürger sollen Anspruch auf Entschädigung haben, wenn ihre Gesundheit aufgrund von Verstößen gegen die neuen nationalen Vorschriften geschädigt wurde.“
Neue EU-Vorschriften zur Luftqualität: Industrie fürchtet Welle von Entschädigungsklagen
Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) warnte im Vorfeld des Beschlusses bereits vor „Entschädigungsansprüchen ungeahnten Ausmaßes“ an den Staat. Die Deutsche Umwelthilfe argumentiert dagegen, die geltenden Grenzwerte reichten nicht aus. Allein in Deutschland sei jährlich mit mehr als 43.000 vorzeitigen Todesfällen durch die Luftverschmutzung zu rechnen – vor allem durch Feinstaub. Hinzu kämen immense Krankheitskosten und Umweltschäden. Als Zugeständnis auch an die Wirtschaft ist nun vorgesehen, dass Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen die Frist zur Einhaltung der Grenzwerte 2030 um bis zu zehn Jahre verlängern können. Das EU-Gesetz muss bis 2026 in nationales Recht umgesetzt werden.
Der SPD-Umweltexperte im EU-Parlament, Tiemo Wölken, sagte, die „ehrgeizige Richtlinie“ geben Kommunen und Industrie Gewissheit, dass das Wohlergehen der Bürger und die öffentliche Gesundheit Vorrang haben müssen. „Und wenn die lokalen Behörden nicht liefern, können die Opfer der Luftverschmutzung rechtliche Schritte einleiten und Schadenersatz fordern“, fügte Wölken hinzu. Die Grünen sprachen von einem „Schritt nach vorn“- Dagegen erklärte der EU-Abgeordnete Norbert Lins für die Christdemokraten: „Die neuen Grenzwerte gehen zu weit.“
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