Raguhn-Jeßnitz. Im Rathaus von Raguhn-Jeßnitz regiert Hannes Loth seit knapp sechs Monaten – geräuschlos. Mit der Bundes-AfD verbindet man ihn nicht.
Gleich am Anfang sagt Gudrun Dietsch diesen Satz, den sie eigentlich nicht aussprechen will. Worte, die sie am liebsten abschütteln möchte wie eine lästige Fliege. Aussagen, die in ihrer Familie Kopfschütteln auslösen. Eine Familie, in der es schon zu DDR-Zeiten nur Westfernsehen gab und einen Vater, der Fan von Helmut Schmidt war. Solch einen Satz könne sie nicht bringen, hätte ihr Sohn gesagt. Aber was solle sie denn tun? Lügen?
Also sitzt Gudrun Dietsch, 71 Jahre alt, an diesem Abend im Februar an ihrem Tisch im Wohnzimmer im schimmernden Licht der Esstischlampe und sagt: „Ich muss zugestehen, dass er es gut macht.“ Er, „der Hannes“, wie Dietsch sagt, und den sie schon kennt, seitdem ihre Tochter mit ihm einen Teil ihrer Jugend verbracht hat. Der Hannes aus Raguhn-Jeßnitz, Ortsteil Retzau, ist heute Anfang 40 und Bürgermeister in der kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, nördlich von Leipzig.
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Das wäre eigentlich nicht der Rede wert. Aber Hannes Loth ist Politiker der AfD. Der Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt stuft den Landesverband als „gesichert rechtsextrem“ ein. Als Loth im September sein Amt antrat, war er Deutschlands erster AfD-Bürgermeister. Und Dietsch sagt dazu noch einen Satz: „Es ist eine saublöde Situation.“
„Man könnte Angst bekommen, vor allem um unsere Kinder“
Dietsch ist nicht die Einzige, die Positives über Loth berichtet. Doch haben ihre Worte Wucht, weil sie in der anderen Ecke des politischen Raums sitzt, parteilos, aber Fraktionsvorsitzende der Freien Wählergemeinschaft/Die Linke im Stadtrat. Weil ihre Sätze die Gefahr mit sich bringen, die AfD und ihre extreme Politik zu etwas Normalem zu erklären.
„Hannes kennt jeder“, sagt Dietsch. Er sei ein „Macher-Typ“, ist in Raguhn-Jeßnitz zu hören. Einer, der zuhöre. Dietsch lobt – aber sie ist auch eine der wenigen in Raguhn-Jeßnitz, die die Gefahren für ihre Heimat ausspricht angesichts des Aufstiegs der AfD in der Kommunalpolitik. Sie warnt – und leistet Widerworte. Auch öffentlich. „Dass wir wirklich wieder um unsere Demokratie fürchten müssen“, sagt sie. „Dabei könnte man Angst bekommen, vor allem um unsere Kinder.“
Ein Landrat in Thüringen, ein Oberbürgermeister in Sachsen und Hannes Loth in Raguhn-Jeßnitz – die Bundesrepublik erlebt, dass die AfD nach der Macht greift. Nicht in der Landesregierung, nicht im Bundestag. Aber in den Kommunen, in den Kreistagen und Stadträten sitzen erste AfD-Politiker an höchster Stelle. Im Sommer wählen mehrere Bundesländer Kommunalparlamente, auch Sachsen-Anhalt. Fachleute beobachten, wie die AfD gezielt Personal in den Städtchen und Gemeinden rekrutiert, in Schützenvereinen, Sportklubs und Freiwilligen Feuerwehren.
Wie sehr kann ein AfD-Bürgermeister einen kleinen Ort verändern?
Bürgermeister arbeiten in Orten wie Raguhn-Jeßnitz ehrenamtlich, die Termine sind oft abends oder am Wochenende, es ist ein Haufen Papierkram für ein paar Euro Aufwandsentschädigung. Und so fehlen Menschen, die sich noch für Politik im Lokalen einsetzen. Deutschland spürt einen Fachkräftemangel im Maschinenraum der Demokratie. Davon profitieren die AfD und Politiker wie Hannes Loth. Er selbst lehnt ein Treffen ab. Fragen will er nur schriftlich beantworten – und „zu gegebener Zeit“. Es bleibt eine Annäherung an den Mann. Und an die Frage, wie es einen Ort verändert, wenn die AfD regiert.
Vor seinem Amtsantritt war Loth Abgeordneter der AfD im Landtag in Magdeburg. Eine Landespartei, in der laut Verfassungsschutz führende Politiker Geflüchtete als „Invasoren“ und „Eindringlinge“ beschimpfen. Und eine Ideologie vertreten werde, der zufolge „eine globale Elite die Pandemie instrumentalisiert“, um eine „neue Weltordnung“ zu errichten.
Bei den Sicherheitsbehörden liegen Hunderte Seiten Material über die AfD. Immer wieder fallen Verbindungen von Mitgliedern der „Alternative“ zu extrem rechten Akteuren wie etwa der „Identitären Bewegung“ auf. Die Debatte über ein Verbot der Partei hat an Fahrt aufgenommen. Wie viel Macht hat ein Mann dieser Partei, einen kleinen Ort in Sachsen-Anhalt zu verändern? Und wie überhaupt konnte es zu seiner Wahl kommen?
In Jeßnitz geht es um die Sanierung der Kita, den Neubau der Ortsfeuerwehr
Im Landtag sei Loth nicht als „ideologischer Einpeitscher“ aufgetreten, sagt David Begrich vom Verein Miteinander e. V. in Magdeburg. Er ist Kenner der rechtsextremen Szene in dem Bundesland. „Das macht es ihm leicht, sich jetzt als netter Nachbar im Kommunalwahlkampf zu positionieren“. Und so habe Loth es gemacht, er führte einen Personen-Wahlkampf, stellte sich selbst in den Mittelpunkt, nicht die AfD. Ähnlich bewerten das auch andere.
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Tilo Hörtzsch zum Beispiel, Vorsitzender der CDU-Fraktion im Stadtrat. Er bittet in einen Nebenraum, Glastisch, durch das Fenster fällt der Blick auf eine alte Villa, die Hörtzsch von seinem Vater geerbt hat und nun vermietet. Hörtzsch trägt seine Arbeitskleidung, eigenes Firmenlogo, Elektroanlagenbau. Sein Parteichef Friedrich Merz nennt die AfD einen „Feind der Demokratie“. Hörtzsch aber schiebt zwischen diese Brandmauer-Reden und sich selbst eine Menge kommunalen Pragmatismus. „Wir sind der Hoffnung, dass Hannes Loth seinen Pflichten als Hauptverwaltungsbeamter nachkommt.“ Denn das ist Loth ja auch, ein Verwaltungsorgan.
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Mit seiner Wahl zum Bürgermeister stand Raguhn-Jeßnitz auf einmal im Rampenlicht einer bundespolitischen Debatte über den Umgang mit der AfD. Aber hier, in der Stadt mit gerade mal 9000 Einwohnern, mit ein paar Imbissen und Gasthöfen, einem Wasserwerk an der Mulde, mit Spitzdachhäusern, rot, grau, beige verputzt, hier also auf dem ostdeutschen Land geht es gerade um die Sanierung der Kita, um Fördermittel für den Neubau der Ortsfeuerwehr, um neue Fußwege.
Je kleiner der Ort, desto kleiner die Brandmauer gegen die AfD
Der Bürgermeister-Kandidat der CDU fiel bei den Menschen in Raguhn-Jeßnitz durch, erreichte nur wenige Prozentpunkte, ein Beamter aus dem Landtag, erst seit Kurzem wohnhaft im Ort. Manche bilanzieren nun, dass Hannes Loth auch deshalb so stark war, weil die Union so schwach war. CDU-Mann Hörtzsch sagt, es werde kein Bündnis mit der AfD im Stadtrat geben. Jeden Beschluss werde er sich genau anschauen. „Und zustimmen, wenn wir es für richtig halten“, sagt Hörtzsch. Die Berliner Debatte um die Zusammenarbeit mit der AfD sei für ihn ein „leidiges Thema“. Je kleiner der Ort, scheint es, desto niedriger wird die Brandmauer.
Kita, Feuerwehr, Straße, für alles muss der Stadtrat mühsam das Geld zusammenkratzen. Nach einem Jahr des Scheiterns hat Raguhn-Jeßnitz nun überhaupt wieder einen Haushalt für das laufende Jahr. Und doch sei Loth auch ein Verwaltungsorgan in Handschellen, so beschreibt es Hörtzsch. Finanziell jedenfalls. Das sei es auch, was die Menschen frustriere: die klamme Kommune. Eine Gebietsreform sollte Einsparungen bringen, doch Stadträte im Ort sagen, das habe nichts gebracht.
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Im Gegenteil: Nun gibt es zwei Rathäuser, eines in Raguhn, eines in Jeßnitz. Gebraucht werde aber eigentlich ein neues, größeres. Und jeder Ortsteil, Alt-Jeßnitz, Retzau, Raguhn und wie sie alle heißen, kämpft am Ende oft für sich selbst. Es ist eine simple Logik der Politik, gerade in der Kommune: wenig Geld, mehr Frust – und mehr Stimmen für Parteien, die Sündenböcke für den Frust finden.
Bei den Kita-Gebühren kann sich Loth nicht durchsetzen
Auf seiner Facebook-Seite postet Bürgermeister Loth Fotos vom reparierten Feuerwehrwagen, von einem Kuchen, den seine Frau für die Jahreshauptversammlung gebacken habe. Er lädt zum „Bürgermeisterkaffee“ am „Briefkasten in Hoyersdorf“, berichtet über ein Treffen mit Amtskollegen in Bitterfeld und Zörbig. Und so sind es auch diese Projekte, die Loth aufzählt, wenn er über die ersten Monate seiner Amtszeit schreibt.
Doch nicht mit allem kann sich Loth durchsetzen. Im Landtag plädiert die AfD für kostenlose Kita-Plätze, in Raguhn-Jeßnitz erhöht die Stadt die Gebühren sogar leicht. Ein Wille des Elternrats, heißt es. Nichts ist bei Loth zu lesen vom Programm der AfD, von den radikalen Parolen, die andere seiner Partei regelmäßig in den sozialen Netzwerken ausspielen.
Zum Kernthema der AfD, der Migrationspolitik, schreibt Loth auf Nachfrage nur: „Versorgung und Unterbringung von Asylbewerbern ist Aufgabe des Landkreises und nicht einer kreisangehörigen Stadt.“ Hannes Loth schiebt so viel Distanz wie möglich zwischen sich und die extremen Positionen seiner Partei. Und die Kritiker der AfD. Der Verfassungsschutz werde „politisch motiviert eingesetzt“. Die Proteste, bei denen deutschlandweit Menschen gegen Rechtsextremisten auf die Straße gehen, schürten „Hass“ und „Hetze“ gegen die AfD, sagt Loth. Er wittert eine Verschwörung von Medien und Politik gegen seine Partei.
Raguhn-Jeßnitz – Ein Ort wie viele auf dem deutschen Land
Die Bundespolitik wird von der AfD als „Blase“ beschimpft, elitär, weit weg vom „Volk“, kontrolliert von „Altparteien“. Doch eine Blase ist vor allem Raguhn-Jeßnitz. Ein Ort wie viele auf dem deutschen Land, in dem die Idee wächst, ausgrenzt zu sein, abgehängt. In dem man sich nicht mehr angehört fühlt. Nicht mehr zugehörig.
Ähnlich sieht es auch Stefan Krause, wenn er über den Erfolg der AfD spricht. Der örtliche Zahnarzt trägt Waldgrün, weil er sich mit seinem Hobby, der Jagd, mindestens so sehr identifiziert wie mit seinem Beruf. Zum Gespräch führt er in seinen Garten, eine drei Hektar große Wiese mit Bäumen und Schuppen. Rehe rennen umher. Krause führt eigentlich die freie Wählergruppe „Pro8“ im Stadtrat an, er lobt aber vor allem Hannes Loth. Er erlebe eine „Aufbruchstimmung“. Früher habe Krause die FDP gewählt, heute stehe er „zwischen CDU und AfD“.
Immer wieder unterlegt er seine Antworten mit Anekdoten, zum Beispiel über seinen Sohn, der das Gefühl habe, in der Schule nicht mehr sagen zu können, was er denke. Man müsse ohnehin aufpassen, nicht gleich „als Nazi“ beschimpft zu werden. Über eine ältere Frau, die mühsam bei der Krankenkasse um eine Zahnbehandlung betteln müsse, während eine Arbeitslose problemlos die Kosten vom Amt erstattet bekomme. Über die Tapeten in der Kita, die schon so von der Wand flattern würden, dahinter könnten sich die Kinder verstecken.
Menschen fühlen sich ungleich behandelt mit Westdeutschen
Wenn Krause Geschichten aus Raguhn-Jeßnitz erzählt, geht es oft um Protest, auch um Existenzängste, Ängste vor Abstieg. Um Ängste vor der Welt außerhalb von Raguhn-Jeßnitz. Einem Ort, in dem einem kaum Ortsfremde auf der Straße begegnen. Gudrun Dietsch, die ältere Stadträtin aus der Helmut-Schmidt-Familie, sagt, es gehe auch um Neid. Vielleicht weil die Menschen hier immer noch das Gefühl haben, nicht gleich mit den Westdeutschen behandelt zu werden.
Die im Westen, die da oben, die da draußen – es ist das „Wir gegen die“, das auch die AfD in ihrer Rhetorik befeuert. Dietsch höre in der Nachbarschaft immer noch diese Sätze: „Zu DDR-Zeiten war es besser, da haben wir noch zusammengehalten.“ Dietsch läuft durch den Park, es ist der Irrgarten von Alt-Jeßnitz, angelegt im Spätbarock des 17. Jahrhunderts, der größte in Deutschland, hier am Muldeufer. Dietsch ist Vorsitzende des Vereins, der sich um den Park kümmert. Während sie von der Geschichte erzählt, sammelt sie noch ein paar tote Äste von der Hecke, quatscht kurz mit den Gartenpflegern.
Seit Jahrzehnten macht Dietsch hier Politik. Gerade aber spüre sie das erste Mal, dass der Aufstieg der AfD Verzweiflung in ihr weckt. Im Sommer ist für Dietsch Schluss, sie kandidiert nicht mehr bei den Kommunalwahlen. Andere sollen ran. „Ob ich mich nicht mehr einmische, weiß ich nicht“, sagt sie und lacht. Angst habe sie jedenfalls nicht, wenn sie den Mund gegen die AfD aufmache. „Und ich will auch keine Angst haben.“ Wenn es Demonstrationen gegen Rechtsextremismus in der Gegend gibt, gehe sie hin. Und vielleicht, sagt Dietsch, hänge sie in ihrem Garten eine Europa-Flagge auf. Gar nichts sagen und tun, das sei ja auch keine Lösung.
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