Washington. Carlson war selbst Fox News irgendwann zu abgedriftet, für Kreml-Boss Putin reicht es aber allemal. Szenen aus einem bizarren Gespräch.
Nach circa acht Minuten wird die Falte, die Tucker Carlson gern zwischen seinen Augenbrauen erzeugt, um unbestechliche Aufmerksamkeit für seinen Gesprächspartner zu suggerieren, fast zum Wulst. Kurz vorher erwähnt Wladimir Putin – warum, wird nicht ganz klar – das Jahr 862. Dann 988. „Entschuldigen Sie, ich verliere den Anschluss, wo sind wir hier zeitlich gerade?“, fragt der aus den USA nach Moskau geflogene Polit-Showmaster den russischen Präsidenten. Antwort Putin: „Im 13. Jahrhundert.“ 60 Sekunden später fällt die Jahreszahl 1654.
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Als sich der russische Präsident zum Auftakt des im Vorfeld als „sensationell“ und „bahnbrechend“ apostrophierten Interviews mit dem US-Amerikaner eine Dokumentenmappe reichen lässt, wird Carlson unruhig: „Ich bin nicht sicher, was das mit dem zu tun hat, was vor zwei Jahren geschehen ist.“ Gemeint ist der Überfall Russlands auf die Ukraine, der in wenigen Tagen ins dritte Jahr gehen wird.
Aber darum ist Carlson in den Kreml gefahren. Um Amerika und der Welt endlich die russische „Wahrheit” über die Dinge nahezubringen. Oder? Vorweg das Fazit: Selten waren 127 Pseudo-Interview-Minuten, die zwischen Geschichtsstunde und Geschichtsklitterung oszillierten, so schwer verdaulich, eitel und nachrichtenarm.
Putin im Interview: In Moskau nichts Neues
Dass Putin die Legitimation für den Angriffskrieg gegen den Nachbarn aus obskuren russischen Entstehungsmythen ableitet, dass er sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion von den USA und Europa übervorteilt fühlt, dass er die Ukraine als angeblich von Neonazis bevölkerten „Satellitenstaat” der USA ansieht, hat man so oder ähnlich schon dutzendfach vernommen. Ebenso das Sentiment, dass Amerikas Eliten von der Idee durchdrungen seien, die Welt zu dominieren.
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Auch die Behauptung, es habe bereits vor 18 Monaten in Istanbul mit der Ukraine eine unterschriftsreife Vereinbarung für eine diplomatische Beilegung des Konflikts gegeben, die angeblich auf Geheiß Washingtons vom damaligen britischen Premierminister Boris Johnson gekippt worden sei, ist nicht neu. Carlson aber setzt nie wirklich messerscharf nach. Und so darf Putin sinngemäß auch diesen Satz in den Raum stellen: „Wenn ihr den Kampf beenden wollt, hört auf, Waffen zu liefern. Dann ist es in ein paar Wochen vorbei.” Zu welchen Konditionen, mit welchen territorialen Verlusten für Kiew, das will Carlson gar nicht wissen.
Putin fabuliert von CIA-Sabotage
Stattdessen kommt Slapstick. Als er den Kremlherrscher nach dem letzten Gespräch mit Joe Biden fragt und die Antwort „Ich kann mich nicht erinnern” lautet, lässt der vor einem Jahr achtkantig beim TV-Sender Fox News herausgeworfene Carlson seinen affektierten Signaturlacher los. Schauderhaft.
Putin, erkennbar mit Botox im Gesicht gestrafft, darf beim Gast aus den Staaten seiner monologisierenden Plauderlaune freien Lauf lassen.
Er sagt: Es werde „niemals passieren”, dass Russland auf dem Schlachtfeld bezwungen wird. Er sagt: Russische Soldaten würden allenfalls dann nach Polen geschickt, „wenn Polen Russland angreift”. Er sagt angesprochen auf etwaige weitere Expansionsgelüste: „Wir haben kein Interesse an Polen, Lettland oder irgendwo sonst. Warum sollten wir das tun?” Er sagt: Der amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA habe die Gas-Pipeline Nord Stream 2 gesprengt, will aber Belege dafür nicht öffentlich machen, weil man den Propagandakrieg gegen die USA eh nicht gewinnen könne. Er sagt: Der Multimilliardär und Unternehmer Elon Musk sei sehr schlau, aber dass er jetzt beim Menschen Chips einsetzen lasse, das müsse staatlich irgendwie reguliert werden.
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Putin bietet Deal an – Deutschland spielt dabei große Rolle
Erst ganz am Ende wurde es bei einer Personalie interessant, nach der Carlson ausdrücklich fragte: Putin kann sich einen Deal vorstellen, der dem vor einem Jahr wegen konstruierter Spionagevorwürfe inhaftierten Reporter des „Wall Street Journals“, Evan Gershkovich, die Freiheit bringen könnte.
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Vorausgesetzt, es gibt ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, bei dem Deutschland eine Schlüsselrolle spielen würde. Ohne den Namen zu nennen, schlug Putin vor, den dort inhaftierten Russen Wadim Krasikow freizulassen. Krasikow sitzt wegen des 2019 im Berliner Tiergarten geschehenen Mordes an dem Georgier Tornike Changoschwili lebenslang in Haft. Für Putin nicht in Ordnung. Er sieht in dem Täter eine Person, die „aus patriotischen Gefühlen einen Banditen in einer der europäischen Hauptstädte beseitigt hat”.
Carlson gilt dem Kreml als „proamerikanisch“
Tucker Carlson hatte das Gespräch am Dienstag in einem mehrminütigen Video aus Moskau angekündigt und behauptet, westliche Journalisten würden zwar ständig über die Position des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj berichten, hätten sich aber nie um die andere Seite bemüht. Dem widersprach Kremlsprecher Dmitri Peskow energisch. Das Sprachrohr des russischen Präsidenten erklärte, man erhalte regelmäßig von vielen westlichen Medienorganisationen Interviewanfragen, bescheide diese jedoch abschlägig, weil von dort nur Voreingenommenheit komme. Carlson dagegen sei „weder prorussisch noch proukrainisch, sondern proamerikanisch”.
US-Medien konterten, dass Carlson bereits vor seiner Entlassung beim quotenstärksten Kabelsender Fox News regelmäßig russische Narrative übernommen, die Ukraine und ihre Staatsspitzen verunglimpft und die amerikanische Unterstützung für Kiew im Kampf gegen den russischen Aggressor als falsch bezeichnet habe.
Das Gespräch wurde auf Carlsons eigener Webseite wie auf Elon Musks Plattform X (früher Twitter) ausgestrahlt. Dort hatte es bereits nach einer Stunde zwölf Millionen Zuschauer.