Brüssel. Ungarn blockiert die EU-Hilfen für die Ukraine, vor dem Sondergipfel gibt es Streit. Orbans Vertreterin in Brüssel spricht Klartext.
Krisenstimmung in Brüssel: Ungarn sperrt sich gegen Pläne der Europäischen Union zur weiteren finanziellen und militärischen Unterstützung der im Krieg gegen Russland. Es geht vor allem um 50 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt – Geld, das die Ukraine in den kommenden vier Jahren finanziell stabilisieren soll. Im Interview erklärt die Spitzenkandidatin der ungarischen Regierungspartei Fidesz zur Europawahl und frühere Justizministerin, Judit Varga, die ungarische Sicht auf den Konflik, spricht über mögliche Kompromisse – und sagt, wie Ungarn über einen EU-Austritt denkt.
Frau Varga, Ungarn hat keinen guten Ruf in vielen EU-Staaten und in Brüssel: Sie gelten als Blockierer, Störenfriede, EU-Gegner. Stört Sie das – oder hat Ungarn dieses Image in seiner Politik schon einkalkuliert?
Judit Varga: Solche Vorwürfe sind komplett falsch. Kein Mitgliedstaat ist perfekt, auch wir haben Fehler. Aber Ungarn ist einer EU beigetreten, in der die Regeln nicht untersagen, in der Außenpolitik eine eigene Meinung zu vertreten. Wenn wir jetzt einen anderen Standpunkt zu Frieden und Krieg in der Ukraine haben, wird so getan, als wenn wir die EU erpressen. In Wahrheit vertreten wir nur die Meinung der größten Mehrheit der ungarischen Leute. Wir gehen nur im Einklang mit unserem demokratischen Mandat – und mit den geltenden europäischen Regeln – vor. Wir sind also keine Erpresser.
Genau das ist der Vorwurf. Beim EU-Sondergipfel könnte Ministerpräsident Orban das EU-Budget für die nächsten Jahre erneut aufhalten – inklusive 50 Milliarden für die Ukraine, die dort dringend erwartet werden, damit das Land finanziell überleben kann.
Wir waren dabei immer konstruktiv. Wir haben schon vor Monaten Vorschläge für das Budget gemacht, wie man die Ukraine finanzieren kann. Wir möchten helfen und tun das auch. In Ungarn sind 1,5 Millionen Flüchtlinge angekommen und versorgt worden, wobei nicht alle geblieben sind, schon wegen unserer schwierigen Sprache. Zugleich leisteten und leisten wir für die Ukraine die größte humanitäre Hilfe in der Geschichte Ungarns. Aber wenn es um politische Entscheidungen geht, sollte Europa zunächst eine Strategie für die Ukraine haben. Niemand weiß, wie lange der Krieg dauert. Warum dann ein Beschluss zur Zahlung über vier Jahre? Warum 50 Milliarden Euro? Niemand weiß, ob das Geld wie vorgesehen verwendet wird.
Kanzler Scholz versucht zu vermitteln, um eine absolute Konfrontation zu verhindern. Beim letzten EU-Gipfel war er damit teilweise erfolgreich. Sehen Sie einen Weg, dass Orban dem EU-Finanzplan zustimmt inklusive der Ukraine-Hilfen?
Ungarn hat vorgeschlagen, jeweils für ein Jahr das Geld freizugeben und zu überprüfen, wie es weitergehen soll. Und wir haben vorgeschlagen, die Zahlungen außerhalb des Haushalts zu behandeln. Das Budget der EU ist ja Ergebnis eines sensiblen Kompromisses, das man nicht neu eröffnen dürfte. Ferner haben die Mitgliedstaaten schon während der Pandemie vereinbart, dass die damalige gemeinsame Kreditaufnahme als Einzelfall gilt. Diese sollen wir auch jetzt vermeiden.
Sodass Ungarn nicht an der Finanzierung beteiligt wäre, nur die anderen 26 EU-Staaten…
Es ist falsch, Europa für vier Jahre zu verpflichten, ohne eine Strategie zu haben. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie die Entwicklung in den USA ist; vielleicht gibt es dort einen grundlegenden Politikwechsel. Europa sollte strategischer und vernünftiger Politik machen.
Ihre Regierung pocht auf die Auszahlung von ausstehenden 20 Milliarden Euro EU-Geldern, die eingefroren sind wegen des Vorwurfs, Ungarn verstoße gegen Rechtsstaatsprinzipien. Würde die Auszahlung etwas ändern?
Nein, das war für uns nie der Zusammenhang. Unsere Gegner verknüpfen das, wir nicht. Das ist ein politisches Spiel. Ich habe die Änderungen an der Justizreform verhandelt, auf die die EU Wert legte, deshalb kann ich sagen: Ich habe alles getan, was ich konnte, damit Ungarn die EU-Gelder erhält. Wir haben für alles Kompromisse gefunden, und Brüssel bescheinigt uns jetzt, dass unser Justizsystem gut ist. Zehn Milliarden Euro haben wir erhalten. Aber das haben unsere liberalen Gegner als Niederlage gesehen, jetzt suchen sie andere Argumente. Kommissionspräsidentin von der Leyen begründet die Sperre für EU-Gelder nun mit der Migrations- und Familienpolitik.
… es geht um die Rechte sexueller Minderheiten und die Rechte von Asylbewerbern…
Das ist unfair, das ist eine politische Erpressung. Gleichzeitig wird gefordert, das Verfahren gegen Ungarn zur Rechtsstaatlichkeit nach Artikel 7 voranzutreiben, damit uns die Stimmrechte in der EU entzogen werden. Das ist nicht das Europa, von dem wir geträumt haben. Und diese Erpressung wird schon ganz offen ausgeübt – wie auch die jüngsten Schlagzeilen bezüglich der möglichen „Konsequenzen“ einer ungarischen Ablehnung der Ukraine-Hilfe leider beweisen. Die Europäische Union ist auf dem Prinzip des Konsenses gebaut. In den Europäischen Verträgen ist nicht die Rede von Veto, sondern von Konsens: Keine Entscheidung, solange alle zustimmen. Ich wünsche mir, dass wir die Seele des Konsenses wieder entdecken.
Wird es seinen solchen Konsens beim Gipfel geben?
Wenn Europa im Konsens denkt: Es gibt immer eine Lösung.
Im Juli übernimmt Ungarn für sechs Monate die Präsidentschaft im EU-Rat. Welche Schwerpunkte setzt es?
Wir haben drei Prioritäten. Erstens Antworten auf die demographische Krise – die alternde Gesellschaft stellt Europa überall vor Herausforderungen. Wir haben mit der Kommission einen Instrumentenkasten ausgearbeitet mit Beispielen guter Politik gegen die Demographiekrise in den Mitgliedstaaten. Ungarn zum Beispiel hat den Weg gewählt, die Familien stärker zu unterstützen. Zweitens möchten wie die Erweiterung der EU voranbringen.
Ungarn unterstützt jetzt doch den zügigen Beitritt der Ukraine? Das klang beim letzten Gipfel anders…
Die Ukraine ist ein Sonderfall. Solange sich ein Land im Krieg befindet, wäre es absurd, echte Verhandlungen zu beginnen. Dieses Vorgehen ist scheinheilig. Auch in der Frage der Erweiterung soll man gemäß der gemeinsamen Regelung vorgehen: ohne doppelte Standards, sondern auf der Basis der Leistung der einzelnen Kandidaten. In diesem Sinne, als ehrlicher Makler wird Ungarn auch als Ratspräsident agieren. Zugleich wollen wir uns auf die Staaten des Westbalkan konzentrieren, die Ungarn immer unterstützt hat. Diese Länder warten schon seit 20 Jahren auf den Beitritt.
Es ist eine Vertrauensfrage für die Staaten des Westbalkan, dass es jetzt vorangeht – sonst schaffen wir in dieser Region ein Vakuum, dass nur andere Mächte nutzen. Und drittens wollen wir die Tagesordnung setzen, dass Europa dringend seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern muss – wir müssen die Industrie stärken, auch den Verteidigungssektor. Die EU verliert sich in ideologischen Debatten, während die Welt vorangeht.
In Deutschland hat die AfD einen Austritt aus der EU ins Gespräch gebracht. Ist das ein Weg auch für Ungarn?
Für Ungarn war es nie eine Alternative, die EU zu verlassen. Wir sind nicht EU-feindlich. Wenn ganz Europa zerbricht, sind wir diejenigen, die noch die letzte Säule festhalten.
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