Brüssel. Ein Trick von Scholz bringt den Durchbruch für EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine. Am Ende legt Orban ein Veto ein. Wo hakt es?
Aufatmen in Kiew, Erleichterung beim EU-Gipfel in Brüssel: Die Europäische Union wird die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und mit Moldau jetzt doch schnell beginnen. Das beschlossen die Staats- und Regierungschefs beim Gipfeltreffen am Donnerstagabend. Die Entscheidung kam überraschend schnell und mit Hilfe eines Tricks von Kanzler Olaf Scholz (SPD) zustande, nachdem Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán noch zum Auftakt des Treffens massiven Widerstand gegen Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine angekündigt hatte. Orban verhinderte allerdings in der Nacht einen Beschluss über neue Finanzhilfen.
Wie kam es zu Orbans Kehrtwende?
Die Entscheidung konnte nur getroffen werden, weil Orbán vorübergehend den Sitzungssaal verlassen hatte. So kam es zum einstimmigen Votum, ohne dass der ungarische Regierungschef zustimmen musste. Die Idee dazu hatte Kanzler Scholz: Als sich die Gespräche am Abend festgefahren hatten, schlug er Orban in großer Runde vor, kurz aus dem Saal zu gehen: „Gönnen Sie sich vielleicht draußen einen Kaffee“, sagte Scholz. Nach Teilnehmerangaben sprach Orban am Rande kurz mit Scholz und ging dann tatsächlich aus dem Saal. Die anderen 26 Regierungschefs beschlossen einstimmig die Beitrittsverhandlungen, was nach den Regeln auch erreicht ist, wenn ein Regierungschef abwesend ist. Und Orban konnte hinter sagen, er sei immer noch dagegen. „Es ist eine völlig unsinnige, irrationale und falsche Entscheidung, unter diesen Umständen Verhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen“, schimpfte er. Scholz nannte den Beschluss ein „starkes Zeichen der Unterstützung“ für die Ukraine. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem „Sieg“ für sein Land und Europa. Wie es jetzt weitergeht, wann die Ukraine zur Europäischen Union gehört, was der Beitritt kostet.
Wie gefährlich ist die Finanzblockade?
Orban blockierte beim EU-Gipfel wenige Stunden später die Einigung auf neue Finanzhilfen für die Ukraine. Geplant war, für die Unterstützung der Ukraine in den kommenden vier Jahren insgesamt 50 Milliarden Euro bereitzustellen. Die sind nun ebenso gesperrt wie weitere Änderungen in der Haushaltsplanung. Aber die EU-Regierungschefs wollen im Januar bei einem weiteren Treffen versuchen, doch noch eine Einigung zu erreichen. Sollte Ungarn die Transfers für die Ukraine weiter blockieren, gibt es indes Alternativlösungen, um die Hilfen sicherzustellen - notfalls auch durch bilaterale Überweisungen. Verglichen mit dem historischen Beschluss zu den Beitrittsverhandlungen, den Orban nicht verhinderte, ist das Finanzproblem von geringerer Bedeutung.
EU-Beitritt der Ukraine: Wie geht es jetzt weiter?
Der Gipfel gab nur politisch grünes Licht für die Verhandlungen. Offiziell können die Gespräche erst beginnen, wenn Kiew weitere Hausaufgaben erledigt hat. Wahrscheinlich im Frühjahr wird es so weit sein. Die EU-Kommission solle dazu bis März einen Report vorlegen und eine Einschätzung abgeben. Denn drei der sieben Vorbedingungen für diese Gespräche hatte Kiew zum Zeitpunkt der jüngsten Beurteilung noch nicht vollständig erfüllt, es ging unter anderem um die Korruptionsbekämpfung. Das Verfahren kommt eigentlich auch Bedenken von Ungarns Premier Orbán entgegen, stand aber schon länger fest.
Wie schnell wie die Ukraine EU-Mitglied?
Schwer zu sagen. Finnlands Beitrittsverhandlungen dauerten keine drei Jahre, die mit der Türkei dagegen ziehen sich schon 18 Jahre hin. In den Verhandlungen wird eigentlich nichts verhandelt, es wird vielmehr die Anpassungsfähigkeit des Kandidaten kontrolliert. Die EU-Seite prüft, ob die Rechtsvorschriften der Ukraine den Kriterien der EU entsprechen und welche Reformen noch notwendig sind. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Marktwirtschaft sind Voraussetzung für die Mitgliedschaft, die Übernahme des gesamten Gesetzesbestands der EU (rund 100 000 Seiten Text) in nationales Recht ebenso.
Vor allem die verbreitete Korruption gilt im Fall der Ukraine als große Hürde. Demokratie und Marktwirtschaft waren vor dem Krieg nach EU-Standards mangelhaft. Ratspräsident Charles Michel hat vor kurzem das Jahr 2030 als möglichen Beitrittstermin genannt, wenn die Ukraine und die EU bis dahin ihre Hausaufgaben machten.
Das ist aber nicht die offizielle Position der EU. Manchem Regierungschef ist die Ansage zu optimistisch, hinter vorgehaltener Hand ist von „Jahrzehnten“ die Rede. Orbán hatte erklärt, die Ukraine sei eines der korruptesten Länder weltweit und auf keinen Fall reif für Beitrittsverhandlungen. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung sieht indes keinen Grund zu Skepsis: „Die institutionellen Standards der Ukraine sind vergleichbar mit Bulgarien und Rumänien, als diese in den neunziger Jahren ihre Beitrittsgesuche stellten“, so die Studie.
„Nimmt man das Reformtempo früherer Beitrittsländer als Maßstab, kann die Ukraine in zehn Jahren institutionell für den EU-Beitritt bereit sein“, erläutert Co-Autorin Miriam Kosmehl. „Eine belastbare Beitrittsperspektive wird die reformorientierten ukrainischen Kräfte in schwierigen Aushandlungsprozessen stützen“. Aus Sicht von EU-Diplomaten könnten aber auch mögliche ungelöste Grenzkonflikte mit Russland einen Beitritt deutlich verzögern. Nach Abschluss der Verhandlungen müssen alle Staats- und Regierungschefs den Beitrittsvertrag unterzeichnen werden. Der Vertrag muss dann von allen Mitgliedsländern per Parlamentsbeschluss oder Referendum ratifiziert werden.
Wie teuer wird der Beitritt der Ukraine für uns?
Ein Beitritt der Ukraine wäre für die EU ein anstrengender und aufwendiger Prozess, er bietet aber auch große Chancen. Die EU würde nach Osten rücken, das unberechenbare Russland wäre der große Nachbar. Die Ukraine wäre mit – vor dem Krieg - 44 Millionen Einwohnern das fünftgrößte EU-Land, von der Fläche sogar das größte Mitglied, reich an Rohstoffen, mit riesiger Ackerfläche. Aber wirtschaftlich schwach. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf liegt bei einem Zehntel des deutschen Niveaus und bei einem Drittel des ärmsten EU-Staates Bulgarien.
Die Ukraine hätte als EU-Mitglied über viele Jahre Anspruch auf immense EU-Fördermittel: Eine neue Studie des Instituts der Wirtschaft (IW) schätzt die EU-Finanztransfers in die Ukraine auf 130 bis 190 Milliarden Euro in einem Sieben-Jahreszeitraum, etwa die Hälfte davon für Agrarsubventionen. Eine Analyse des Generalsekretariats des Europäischen Rates schätzt die Ansprüche auf 190 Milliarden Euro im siebenjährigen Haushalts-Plan. Das Resümee des Rates: „Alle Mitgliedstaaten werden mehr bezahlen müssen und weniger aus dem Haushalt erhalten. Viele Mitgliedstaaten werden von Netto-Empfängern zu Nettozahlern“.
Das ist schwierig, weil die EU-Staaten ab 2027 auch noch über Jahrzehnte die gemeinsamen Schulden aus dem 800 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds zurückzahlen müssen. Deutschland als größter Nettozahler der EU müsste für den Aufbau der Ukraine also voraussichtlich mehr aus seinen Steuermitteln nach Brüssel überweisen - nach groben Schätzungen bis zu zehn Milliarden Euro - oder würde weniger aus EU-Kassen bekommen. Die deutsche und vor allem die französische Landwirtschaft müsste sich auf den Wettbewerb mit der „Kornkammer“ Ukraine einstellen.
Ukraine: Kann der EU-Beitritt noch scheitern?
Sehr unwahrscheinlich. Dass die Ukraine Mitglied im Club wird, ist ein festes Versprechen, begründet auch aus den geostrategischen Interessen der EU nach dem Angriffskrieg Russlands. Ziel: keine Grauzone mehr aus östlichen, bündnisfreien Nachbarn zwischen EU und Russland. Doch ist inzwischen auch Konsens, dass die EU sich vor der Erweiterung im Innern reformieren muss, um handlungsfähig zu bleiben. Da geht es um straffere Entscheidungsverfahren, die Abkehr von Veto-Möglichkeiten einzelner Staaten, eine Verkleinerung der Kommission, Änderungen im EU-Haushalt, die Größe des Parlaments (allein die Ukraine würde ohne Reform 50 bis 60 Abgeordnete entsenden).
Der Gipfel beschloss, die Reformen zügig nach der Europawahl im Juni 2024 in Angriff zu nehmen – bis nächsten Sommer soll ein Reformfahrplan stehen. Rechtzeitig für diese konfliktträchtige Debatte hat eine deutsch-französische Expertengruppe auf Bitten der beiden Regierungen Reformvorschläge gemacht: Notwendig sei ein „substanziell größeres Budget“, die EU brauche neue Einnahmen, heißt es in ihrem 60-seitigen Bericht.
Aber die EU soll bei der Steuer- und Haushaltspolitik (ebenso wie in der Außenpolitik) weg vom Prinzip der Einstimmigkeit, hin zu Mehrheitsentscheidungen. Auch in der Finanzpolitik könne es eine „Koalition der Willigen“ geben, etwa für eine eigene Brüsseler Steuerbefugnis. Am Ende stünde eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten. Bis 2030 müsse die EU bereit sein für die Erweiterung. Ob die Ukraine dann wirklich sofort wie erhofft Mitglied mit vollen Rechten wird, ist aber offen. Als Variante gilt, dass der Ukraine für eine Übergangszeit nur eine Teilintegration angeboten wird, etwa mit der Mitgliedschaft im Binnenmarkt, aber ohne volles Stimmrecht in der EU und anfangs ohne volle Fördermittel-Ansprüche.