Kfar Aza. Siebzig Hamas-Kämpfer drangen in den Kibbuz ein, zündeten Häuser an, mordeten wahllos und verschleppten Menschen. Ein Besuch.
Die ausgebrannten Autowracks sind nicht mehr da, ebenso die Pick-ups und die Paraglider, mit denen die Hamas-Terroristen in Kfar Aza eingefallen waren. Aber die Spuren des Überfalls sind überall zu sehen. Hausrat und Kinderspielzeuge liegen vor Ruinen mit rußgeschwärzten Fensterhöhlen. An die Wände haben Soldaten Zahlen gesprüht, um zu kennzeichnen, dass in den Häusern keine Gefahr mehr droht.
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Auch die Freiwilligen der Organisation Zaka haben ihre Zeichen angebracht. Ihre Arbeit ist beendet. Sie haben in den vergangenen Wochen die Überreste der Ermordeten geborgen, jeden Hautfetzen, jedes Knochenstückchen, jeden Blutstropfen. Die Toten müssen vollständig beerdigt werden, so verlangt es die jüdische Tradition. Ralph Levinsohn kannte die Menschen, die hier am 7. Oktober umgebracht wurden. Sie waren seine Freunde, seine Nachbarn. Er will, dass trotz all des Leids das Leben wieder zurückgekehrt an diesen Ort, der seit über vier Jahrzehnten seine Heimat ist.
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Israel: Für die Menschen wird der Luftalarm mit den Jahren zur Alltagsroutine
Levinsohn, 72, ist nach Israel eingewandert, aus Namibia, wohin seine Eltern aus Deutschland vor den Nazis geflohen waren. Er und seine Frau entscheiden sich bewusst für das Leben im Kibbuz Kfar Aza. Die Intimität der Gemeinschaft gefällt ihnen besser als die Anonymität der Stadt. Die Siedlung ist grün, die kleinen, cremefarbenen Häuser sind umgeben von Rasenflächen, Palmen, Orangen- und Zitronenbäumen. Vögel zwitschern. Es könnte eine Oase sein. „Das Leben hier war immer 95 Prozent Himmel und 5 Prozent Hölle“, sagt Levinsohn.
Der höllische Teil des Lebens in Kfar Aza, das sind die Raketen, die immer wieder vom nur knapp zwei Kilometer entfernten Gazastreifen herüberfliegen. Jedes Haus hat einen Schutzraum, der Kindergarten ist eingebunkert. Für die Menschen in Kfar Aza wird der Luftalarm mit den Jahren zu einer Alltagsroutine, die meisten Geschosse landen in den Feldern oder werden abgefangen. Doch nicht immer gehen die Angriffe glimpflich aus. Vor sieben Jahren zerreißt eine Mörsergranate einen Nachbarn von Levinsohn.
Die Terrorattacke am frühen Morgen des 7. Oktober stellt aber alles bisher Dagewesene in den Schatten. Etwa siebzig Hamas-Kämpfer dringen in den Kibbuz ein, zünden Häuser an, morden wahllos, verschleppen Menschen, liefern sich tagelange Gefechte mit den zur Hilfe eilenden israelischen Soldaten.
„Israel hat die Pflicht, für meine Sicherheit zu sorgen“
Elf Wochen später steht Ralph Levinsohn vor seinem Haus, in dem er die schlimmsten Momente seines Lebens verbracht hat. Am bewölkten Himmel kreisen Hubschrauber. Immer wieder donnert das Feuer der israelischen Artillerie, die ganz in der Nähe Position bezogen hat. Über dem Gazastreifen stehen dunkle Rauchsäulen.
Früher hat Levinsohn wie viele andere in seinem Kibbuz als Freiwilliger kranke und verletzte Palästinenser zur Behandlung in israelische Krankenhäuser gefahren. Ihm täten die Kinder leid, die im Gazastreifen sterben, sagt er. Sie haben dort keine Schutzräume. „Aber mein Staat hat die Pflicht, für meine Sicherheit zu sorgen.“ Sicherheit könne es erst wieder geben, wenn aus dem Gazastreifen keine Raketen mehr abgeschossen werden.
Levinsohn zeigt auf das verbretterte Fenster, durch das die Soldaten eingedrungen sind, um ihn, seine Frau und den Hund zu retten, fast 24 Stunden, nachdem der Angriff begonnen hatte. Er berichtet von der Angst im Schutzraum, von den quälenden Stunden der Ungewissheit, in denen er nicht wusste, ob seine Tochter noch lebt, von den Leichen, die auf dem Rasen vor dem Haus lagen, tote Hamas-Kämpfer vermutlich.
Er deutet auf die Häuser in der Nachbarschaft. „Die beiden Söhne von dem Nachbarn dort sind noch immer Geiseln in Gaza. Dahinten in dem Haus ist das Ehepaar ermordet worden.“ Levinsohn läuft langsam die Straße entlang. Auf einer Veranda hängt ein Windspiel, es erklingt leise. Auch in diesem Haus sind zwei Menschen gestorben, er Polizist, sie Krankenschwester.
„Früher war alles so schön und gepflegt“
Er geht in eine Ruine hinein. Der Dachstuhl ragt grotesk zersplittert in den Himmel. Glas knirscht unter seinen Schuhen. Das Haus, sagt er, sei von den israelischen Streitkräften zerbombt worden, weil sich darin Hamas-Terroristen verbarrikadiert hatten. Im Schutzraum blättert er in einem alten Fotoalbum, legt es sacht zur Seite.
„Die Leute, die hier gewohnt haben, stammen aus Österreich.“ Das Ehepaar hat überlebt. Die beiden sind jetzt, wie die meisten der Überlebenden von Kfar Aza, im Kibbuz Schefajim hundert Kilometer nördlich untergekommen. Sie haben Levinsohn gebeten, ihnen ein Buch mitzubringen. Draußen schaut der 72-Jährige resigniert auf die Trümmer, auf die zerfetzten Bäume und Büsche, die den Wegesrand säumen, auf die Zitronen und Orangen, die auf dem Boden liegen. „Früher war alles so schön und gepflegt.“
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Am westlichen Rand Kfar Azas liegen kleinere Häuser, dort haben die jungen Menschen gewohnt. Hier haben die Terroristen besonders brutal gewütet. Fast alle Gebäude sind zerstört, vor vielen sind Banner mit den Bildern und Namen der Toten angebracht. 63 Tote beklagt Kfar Aza bislang. Die letzten beiden haben sie erst vor Kurzem beerdigt. Jotam Haim und Alon Lulu Schamris waren zwei der drei jungen Männer, die die Hamas als Geiseln genommen hatte, und die versehentlich von israelischen Soldaten erschossen worden waren.
„Meine Frau ist Sozialarbeiterin, sie hilft mir am besten“
Levinsohn geht auf einen alten Mann zu, der sich auf einen Gehstock stützt. Er umarmt ihn, spricht mit ihm. Amos Epstein, 85, der die Fabrik gegründet hat, die eine der Haupteinnahmequellen für den Kibbuz war, hat am 7. Oktober seine Frau, seinen Schwiegersohn und zwei Enkelkinder verloren. „So viele Familien sind zerstört worden“, sagt Levinsohn und seine Stimme droht zu brechen.
Eine Gruppe amerikanischer Juden schaut sich entsetzt die Ruinenlandschaft an. Sie sind gekommen, um zu helfen. Die Überlebenden brauchen viel Unterstützung. Die Regierung will teilweise für die Schäden an Eigentum und Seele aufkommen, es wird aber nicht ausreichend sein, glaubt Levinsohn. Auch er hat psychologische Hilfe gesucht, hat es aber nach zwei Sitzungen aufgegeben. „Meine Frau ist Sozialarbeiterin, sie hilft mir am besten“, sagt er.
Shar Shnurman ist schon zurückgekommen. Er sitzt auf der Veranda seines Hauses, wo sie sich früher regelmäßig zum Grillen getroffen haben. Er und seine Frau haben nach der Terrorattacke zwei Monate in einem Appartement in Tel Aviv gelebt. „Ich konnte nicht mehr in der Stadt bleiben. Ich musste nach Hause.“ Er bietet einen Kaffee an und Kekse, die hat seine Frau selbst gebacken. Die Zitronen sind vom Baum neben dem Haus. An der Veranda hängt eine schwarze Fahne, dort, wo früher die israelische hing. „Die bleibt da so lange, bis mindestens 50 Prozent der Leute zurück sind.“ Shnurman hat aus Tel Aviv eine frische Tätowierung mitgebracht. Er hat sich das Datum der Terrorattacke in den rechten Unterarm stechen lassen. „Es musste im Fleisch verewigt sein.“
Bislang sind die beiden die einzigen der 950 Einwohner, die es gewagt haben, wiederzukommen. Shnurman sagt, es sei bedrückend. Früher sei Kfar Aza quirlig und lebendig gewesen, ständig sei das Lachen der vielen Kinder zu hören gewesen. Jetzt dröhnt nur der Krieg. Nachts ist es dunkel. Ob das Lachen zurückkehren wird, ist ungewiss. „Diejenigen, die junge Kinder haben, werden vielleicht nicht heimkehren. Viele Kinder waren schon vor dem 7. Oktober durch den ständigen Raketenbeschuss traumatisiert“, sagt Ralph Levinsohn. Er, seine Frau, seine Tochter und sein Sohn wollen wieder zurück nach Kfar Aza. „Das ist unser Heim, ich kenne nichts anderes“, sagt Levinsohn.