Tel Aviv. Im südlichen Gazastreifen kämpft Israels Armee erbittert gegen die Hamas. Doch Zweifel wachsen, ob dieser Krieg erfolgreich sein kann.
Der Kampfgeist der Hamas sei geschwächt, der Sieg über die Terroristen nur noch wenige Wochen entfernt: Diese Nachrichten hört man aus israelischen Militärkreisen nun immer öfter.
Es sind frohe Botschaften an zwei Adressen: An die israelische Öffentlichkeit, die jeden Tag in den Nachrichten mit neuen Bildern und Biografien weiterer gefallener Soldaten im Gazakrieg konfrontiert wird – allein am Mittwoch waren es zehn Todesmeldungen. Und an Washington, wo US-Präsident Joe Biden zuletzt so deutlich wie nie Israel dazu aufgerufen hat, die Kämpfe so bald wie möglich einzustellen. Biden hatte Benjamin Netanjahus Regierung deutlich für ihr Vorgehen kritisiert und gewarnt, dass Israel zunehmend an Rückhalt in der Welt verliere. Grund seien die „willkürlichen Bombenangriffe“ der israelischen Armee in Gaza.
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Doch wie lange wird es tatsächlich dauern, bis die Hamas besiegt ist? Und kann sie überhaupt vernichtet werden? Dass die Moral der Hamas deutlich geschwächt ist, glaubt der frühere Militärgeheimdienst-Offizier und israelische Hamas-Experte Michael Milstein nicht. Der politische Führer der Hamas in Gaza, Yahya Sinwar, sei sogar der Überzeugung, „dass 20.000 tote Palästinenser und die fast vollständige Zerstörung des Gazastreifens immer noch ein respektabler Preis für diesen siegreichen Schlag gegen Israel“ seien.
Experte: Ideologie der Hamas wird weiter gestärkt
Die Stärke der Qassam-Brigaden der Hamas wird auf 25.000 bis 30.000 Kämpfer geschätzt. Selbst, wenn es gelingen sollte, Zehntausende Hamas-Mitglieder zu töten, werde das die Hamas nicht zum Verschwinden bringen, meint Milstein. Die Terrororganisation sei schließlich nicht nur im Gazastreifen aktiv, sondern auch im Westjordanland, im Libanon, in Syrien, der Türkei und in Katar. Israels Armee könne und müsse die Hamas militärisch schwächen und ihrer Führung in Gaza vorerst ein Ende setzen, sagt Hamas-Experte Michael Barak. „Dass die Hamas vernichtet werden kann, ist aber Wunschdenken.“
Der Forscher am Internationalen Institut für Terrorismusabwehr und Lektor an der Verwaltungsakademie der Reichman Universität glaubt, dass die Ideologie der Hamas von religiösen Autoritäten gestärkt und weiter verbreitet werden wird. Er nennt die Al-Azhar-Universität in Kairo als Beispiel: Sie habe sich in den vergangenen Jahren von einem mäßigenden Faktor zu einem radikalen Faktor gewandelt und positioniere sich jetzt auf der Seite der Muslimbrüderschaft und der Hamas.
In einer Fatwa erklärte sie das gezielte Töten israelischer Zivilisten für legitim. „Wenn man eine solch wichtige religiöse Institution auf der Seite der Terroristen hat, ist es fast unmöglich, die Hamas zu schlagen“, sagt Barak. In Gaza merke man zwar eine gewisse Frustration über die Hamas – auch unter deren Kämpfern. „Viele sind verärgert, weil die versprochenen Zahlungen für die Geiselnahmen am 7. Oktober ausgeblieben sind.“ Von einem Kontrollverlust könne man derzeit aber nur im Norden des Gazastreifens sprechen.
Israel muss Politik gegenüber Hamas grundlegend ändern
Viele der Kämpfer im Norden seien von den Kommandoketten abgeschnitten, „sie wissen nicht, was sie zu tun haben“, erläutert Barak. Das treibe einige von ihnen dazu, sich der israelischen Armee zu ergeben. Laut Armeeangaben haben das in den vergangenen Wochen 470 Terroristen getan. Im Süden, wo sich die Spitzen der Hamas aufhalten sollen und die Kämpfer untereinander besser vernetzt sind, „ist es extrem kompliziert“, sagt Barak. Dennoch hält der Experte das Ziel der Armee, die Hamas in rund eineinhalb Monaten militärisch überwältigt zu haben, für realistisch.
Um die Hamas längerfristig zu schwächen, sei Israel auf die Unterstützung der USA und Europas angewiesen, sagt Barak. „Der Westen muss Druck auf die Türkei und Katar ausüben, um die Finanzierungsquellen der Hamas auszutrocknen.“ Das sei aber ein längerfristiges Vorhaben. Für die kürzere Perspektive müsse man neue Lösungen finden – nicht zuletzt für die Frage, wer Gaza nach dem Krieg kontrollieren soll. Dass die Palästinenserbehörde (PA) diese Aufgabe übernehmen könne, hält Barak für unrealistisch. „Die PA hat schon gesagt, dass sie bereit ist, die Hamas in die Führung zu integrieren.“
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Auf diese Weise könnte die Terrorgruppe zurück an die Macht finden. Und das wäre für Israel – und wohl auch für die USA und Europa – nicht akzeptabel. Israel müsse seine Politik der Hamas gegenüber von Grund auf ändern, sagen die Experten. Das Land hat es in den vergangenen Jahren ermöglicht, dass Katar Milliarden Dollar nach Gaza pumpen konnte. Die Sicherheitspolitik war geleitet von der Annahme, dass ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Sicherheit helfen würde, Gaza auch politisch zu stabilisieren und militärische Gewalt gegen Israel weniger wahrscheinlich zu machen.
Das war ein fataler Irrtum: Die Gelder aus Katar wurden wohl auch für die Vorbereitungen der Massaker vom 7. Oktober und für den Bau einer gigantischen Anzahl an Raketen genutzt, die in diesem Krieg auf israelische Städte und Dörfer abgefeuert wurden. Es war nicht nur Naivität, die Israel zum Appeasement gegenüber der Hamas in Gaza veranlasste. Die Logik der Rechtsparteien war und ist, dass man die Palästinenserbehörde in Ramallah schwächen müsse, um freien Lauf bei der Expansion der Siedlungen im Westjordanland zu haben. Nachdem die PA zum Feind erklärt worden war, wurde die Hamas zum Feind des Feindes – und letztlich als kleineres Übel gesehen. Der 7. Oktober hat diese Ansicht schlagartig geändert.
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