Berlin. CDU-Chef Friedrich Merz legt nahe, dass Antisemitismus in Deutschland importiert sei. Die Realität ist komplizierter, sagen Experten.
Die Zahlen sind schockierend. Allein in den sieben Tagen nach der Attacke der Hamas auf Israel dokumentierten die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) 202 antisemitische Vorkommnisse in Deutschland, 240 Prozent mehr als im selben Zeitraum im Vorjahr. Bei Demonstrationen auf deutschen Straßen waren antisemitische Slogans zu hören, in Berlin flogen Brandsätze auf eine Synagoge.
Es sind die Schockwellen der Gewalt in Israel und Gaza, die auch Deutschland erreichen. Und mit ihnen kommt eine Debatte über Herkunft und Verbreitung von Hass gegen Juden in Deutschland.
Angestoßen hatte diese CDU-Chef Friedrich Merz. Deutschland könne nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen, sagte der kürzlich in einem Interview, gefragt nach möglicherweise fliehenden Palästinensern. Und fügte dann hinzu: „Wir haben genug antisemitische junge Männer im Land.“ Die Gesellschaft fange jetzt an, „darüber nachzudenken, was in den letzten Jahren bei der Einwanderung alles falsch gemacht worden ist“. An anderer Stelle forderte er ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels als Vorbedingung für Einbürgerungen.
Antisemitismus, ein importiertes Problem? Das legen zumindest die Äußerungen des CDU-Chefs nahe. Aber was sagen die Zahlen?
Statistik über politische Kriminalität: Mehr als 80 Prozent der Fälle von rechts
Die Statistik des Bundesinnenministeriums zu politisch motivierter Kriminalität führt für das Jahr 2022 2641 antisemitische Straftaten auf. Es war, nach dem Vorjahr mit 3027 Fällen, der zweithöchste Wert seit Beginn der Erfassung 2001. Der größte Teil davon, rund 2200, entfiel dabei auf Straftaten von rechts. Als motiviert durch ausländische Ideologie oder religiöse Ideologie hält das Ministerium 105 Fälle fest, als links nur acht Fälle.
Doch die Statistik steht in der Kritik. Denn die Aufstellung des Innenministeriums ist eine sogenannte Eingangsstatistik – die Polizei erfährt von einer Straftat, bewertet das mutmaßliche Motiv und ordnet den Vorgang einer Kategorie zu. Das alles passiert zu einem sehr frühen Zeitpunkt des Verfahrens, spätere Erkenntnisse werden nicht immer berücksichtigt.
Nahost-Krieg: Sorge vor „neuer Dimension des Gewaltpotenzials“
Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung werde man deshalb versuchen müssen, bei dieser Zuordnung präziser zu sein, sagt Dirk Peglow, Vorsitzender des Bunds Deutscher Kriminalbeamter (BDK). „Wenn ein Haus, in dem Jüdinnen und Juden wohnen, mit einem Davidstern gekennzeichnet wird, kann man das nicht einfach ‚rechts‘ zuordnen“, erklärt er. „Es ist gut möglich, dass die aktuelle Situation den Arbeitsalltag der Kolleginnen und Kollegen merklich ändert.“
Der Tendenz nach könne man der Statistik trotz dieser möglichen Ungenauigkeiten trauen, sagt Uffa Jensen, stellvertretender Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Das größte antisemitische Gewaltpotenzial gehe von Rechtsextremen aus.
Doch vor dem Hintergrund des Kriegs in Nahost fürchtet er eine Verschiebung. Im Moment, sagt Jensen, gebe es eine „signifikante Bedrohungslage“. „Dahinter kann eine neue Dimension des Gewaltpotenzials stehen.“ Diese Sorge teilt auch Peglow – er sieht eine Gefahr, dass Menschen „auf und durch diese Demos, aber auch durch gezielte Desinformation in den sozialen Medien radikalisiert werden.“
Studien finden höhere Zustimmung für israelbezogenen Antisemitismus bei Muslimen
Die aktuelle Entwicklung mit Einwanderung in der jüngeren Vergangenheit zu erklären, sei aber unzureichend, findet TU-Forscher Jensen. „Mein persönlicher Eindruck ist, dass auf den Straßen im Moment ziemlich viele Jugendliche sind, die hier schon seit langem leben, vielleicht auch in zweiter oder dritter Generation“, sagt er. „Diese Jugendlichen sind Bildungsinländer, die haben ihr Leben hier verbracht. Das stellt Fragen an das Schulsystem und die gesamte öffentliche Debatte in Deutschland.“
Eine Auswertung aktueller Studien zum Thema Antisemitismus, die Jensens Kollegin Sina Arnold im Frühjahr für den Mediendienst Integration durchgeführt hat, zeichnet ein differenziertes Bild vom Vorkommen antisemitischer Ideen in verschiedenen Milieus.
Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland meist israelbezogen
Demnach ist sogenannter klassischer Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden kulturelle oder biologische Andersartigkeit zuschreibt, in muslimischen Gemeinschaften in Deutschland weiter verbreitet als unter Nicht-Muslimen. Diese Form von Antisemitismus umfasst etwa Stereotype wie die Vorstellung, Juden seien überproportional einflussreich. Auch israelbezogener Antisemitismus ist demzufolge unter Muslimen und Musliminnen häufiger verbreitet als in der Gesamtbevölkerung.
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Dem gegenüber steht sogenannter sekundärer Antisemitismus, der etwa die Relativierung oder Leugnung des Holocaust umfasst. Hier ist die Zustimmung zu einschlägigen Aussagen unter Musliminnen und Muslimen auf dem Niveau der Gesamtbevölkerung oder darunter.
„Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland ist meistens politischer, israelbezogener Antisemitismus, selten Antisemitismus, der sich religiös begründet“, sagt auch Lamya Kaddor, Erziehungs- und Islamwissenschaftlerin und Bundestagsabgeordnete der Grünen.
TU-Forscher: Nahost-Konflikt mehr in Schulen thematisieren
Den Tenor von CDU-Chef Merz, dass Antisemitismus in Deutschland maßgeblich durch die Migration der vergangenen Jahre gekommen sei, weist sie aber zurück. „Wir haben eine Menge hausgemachten Antisemitismus“, sagt sie. „Der ist etabliert, der hat Strukturen. Die größte Bedrohung für Jüdinnen und Juden geht immer noch von rechts aus.“ Den Kampf gegen Antisemitismus mit der Migrationsdebatte zu verknüpfen, wie das Merz das getan habe, findet sie gefährlich. „Es ist das Spiel von Extremisten, Bevölkerungsgruppen so gegeneinander auszuspielen und Angst zu schüren.“ Im Übrigen seien Antisemitismus und Extremismus im neuen Staatsbürgerschaftsrecht der Ampel längst Ausschlussgründe für eine Einbürgerung.
Trotzdem sieht auch sie Handlungsbedarf, vor allem in den Schulen. „Schule ist ein Mikrokosmos dessen, was in der Gesellschaft passiert“, sagt Kaddor. „Lehrkräfte und Schulleiter managen gesellschaftliche Prozesse.“ Dabei bräuchten sie mehr gesellschaftliche Unterstützung, etwa durch mehr Supervision, Gelegenheiten zum Austausch, Material für Unterrichtsgespräche über Antisemitismus und vor allem „Rückendeckung“, so die Grünen-Politikerin.
Auch Antisemitismusforscher Jensen sieht Schulen als Schlüsselort, um Antisemitismus zurückzudrängen. „Wir müssen den Unterschied besser vermitteln zwischen Betroffenheit über das, was den Menschen in Gaza passiert, und Angriffen auf Jüdinnen und Juden“, sagt er. Wenn es an Schulen um Antisemitismus gehe, werde der Nahost-Konflikt gern ausgeklammert, weil das Thema konfliktreich ist. „Aber damit erreichen wir die Kinder und Jugendlichen nicht, die sich betroffen fühlen. Und wir erreichen sie auch nicht mit Information und dem Wissen, wo die Grenze liegt zwischen Wut über den Konflikt und Antisemitismus.“
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