Berlin. FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann erklärt, warum Wladimir Putin vor dem Einsatz von Atomwaffen zurückschrecken wird.

In der Ukraine wird sie bejubelt, in Deutschland beschimpfen manche sie als Kriegstreiberin: Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag und Spitzenkandidatin der FDP zur Europawahl, sagt im Interview mit unserer Redaktion, warum sie das Zögern von Kanzler Olaf Scholz (SPD) für gefährlich hält – und wie sie die Psyche des russischen Präsidenten Wladimir Putin einschätzt.

Frieden schaffen mit immer mehr Waffen – geht dieses Kalkül in der Ukraine auf, Frau Strack-Zimmermann?

Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Mit weniger Waffen würde der Frieden in weite Ferne rücken. Ohne die Unterstützung der westlichen Verbündeten hätte Russland die Ukraine bereits vernichtet. Damit sich die Ukraine gegen den Aggressor schützen kann, braucht sie auch weiterhin unterschiedliche Waffensysteme.

Putin hat noch immer Angst vor Corona

Sollte die Bundesregierung nach Panzerhaubitzen, Lenkflugkörpern und Kampfpanzern auch noch Marschflugkörper liefern?

Strack-Zimmermann: Nach schwerfälligem Beginn engagiert sich Deutschland inzwischen sehr stark. Neben der humanitären und wirtschaftlichen Unterstützung ist auch jedes einzelne Waffensystem wirkungsvoll im Einsatz und rettet viele Menschenleben. Über Marschflugkörper allerdings diskutieren wir jetzt schon seit einem halben Jahr. Wir sollten Taurus nun umgehend liefern, denn mit dem gezielten Einsatz der Marschflugkörper kann die ukrainische Armee den russischen Nachschub empfindlich stören.

Kanzler Scholz zögert. Verlängert er damit den Krieg?

Strack-Zimmermann: Jeder von uns wägt ab. Man kann aber auch durch zu langes Zögern Leid verlängern.

Die ukrainische Armee greift auch Ziele auf russischem Boden an. Halten Sie das für legitim?

Strack-Zimmermann: Für uns zählt einzig das Völkerrecht. Der russische Angriff auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig. Dass die Ukraine sich verteidigt, ist völkerrechtskonform. Dazu gehört auch der Angriff auf russische Stellungen. Damit wird der Abschuss von hunderten Raketen verhindert, die tagtäglich auf die Ukraine gerichtet sind.

Sind Sie einverstanden, wenn mit deutschen Marschflugkörpern russisches Territorium angegriffen wird?

Strack-Zimmermann: Ja, dazu zählt auch die Krim, über die der Nachschub für die russische Armee organisiert wird. Grundsätzlich gilt: Das Völkerrecht erlaubt der Ukraine auch, militärische Ziele auf dem Gebiet des russischen Aggressors anzugreifen. Völlig losgelöst davon, wo die Waffen hergestellt wurden und wer sie geliefert hat. Vom Völkerrecht nicht gedeckt wäre der Einsatz deutscher Soldaten in der Ukraine - und wenn gezielt Zivilisten in Russland angegriffen würden.

Russland ist Nuklearmacht. Sind Sie sicher, dass Putin nicht doch noch Atomwaffen einsetzt?

Strack-Zimmermann: Er hat bis heute panische Angst vor dem Coronavirus und baut nach dem Söldneraufstand gerade eine Privatarmee auf, die ihn vor potentiellen Feinden im eigenen Land schützen soll. Wenn er solche Ängste um sein eigenes Überleben hat, warum sollte er dann eine Atombombe einsetzen? Auch russisches Staatsgebiet würde dadurch schweren Schaden nehmen. Selbstverständlich darf ein atomares Bedrohungsszenario nie aus den Augen verloren werden. Putins Macht im russischen Staatsapparat lebt aber vom Narrativ, der Westen würde mal wieder Russland angreifen und der Krieg gehöre zur Normalität. Dieser Krieg ist für Putin das Mittel zum politischen Zweck. Wenn er also eine Atombombe einsetzen würde, hätte er wirklich alle Staaten dieser Erde gegen sich – auch China. Und er könnte die Ukraine nicht mehr einverleiben.

Viele verstehen Ihre Position nicht. Im Netz werden Sie angefeindet und als "Kriegstreiberin" verunglimpft. Wie gehen Sie damit um?

Strack-Zimmermann: Das perlt an mir ab. Wer in die Politik geht und seine Meinung vehement vertritt, der polarisiert eben. Das gehört zur Jobbeschreibung dazu.

Donald Trump will Krieg schnell beenden sagt er

Donald Trump will wieder US-Präsident werden – und behauptet, er könne den Krieg "in weniger als einem Tag" beenden. Was stellen Sie sich darunter vor?

Strack-Zimmermann: Donald Trump hat auch behauptet, Frauen würden sich von berühmten und mächtigen Männern gerne unter den Rock greifen lassen. Aber Ironie beiseite: Richtig ist natürlich, dass der Krieg ohne die massive amerikanische Unterstützung anders verlaufen wäre. Ohne diese Hilfe würde sich die Lage deutlich verändern.

Könnten die Europäer die Ukraine ohne die USA verteidigen?

Strack-Zimmermann: Wenn jedes Land an Bord wäre – ja. Auch wenn es zugegebenermaßen sehr problematisch ist, da es in Europa so viele unterschiedliche Waffensysteme gibt und die Ukrainer daran ja ausgebildet werden müssten. Wir werden die Ukraine unterstützen, so lange es erforderlich ist. In Europa sollten wir nicht tagtäglich auf einen möglichen Machtwechsel in den Vereinigten Staaten starren wie das Kaninchen auf die Schlange, sondern endlich anfangen, unsere eigene Sicherheits- und Außenpolitik zu stärken. Europa muss für sich mehr Verantwortung übernehmen.

Das haben schon viele gefordert.

Strack-Zimmermann: Aber jetzt ist es keine theoretische Debatte mehr. Allen wird klar vor Augen geführt, wie ernst die Lage ist. In der EU-Kommission bräuchte es daher ein Mitglied, das sich um die Sicherheitspolitik kümmert. Die koordinierte Unterstützung der Ukrainer und die gemeinsame Munitionsbeschaffung zeigen ja bereits Wirkung.

Sicherheitskommissarin – wäre das Ihr Traumjob?

Strack-Zimmermann: In Europa herrscht Krieg. Es geht hier nicht um die Wünsche einzelner Politiker, sondern um die grundsätzliche Frage, wie effektiv sich Europa in Zukunft schützt.

Wann hält sich Deutschland an die Vorgabe der Nato, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben?

Strack-Zimmermann: Wir werden in drei Jahren das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr investiert haben und dann von 2027 an zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts stetig im Haushalt für Verteidigung festschreiben.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist Beisitzerin im Bundesvorstand der FDP und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag. Fotografiert am 28. September 2023 im Berliner Pail-Löbe-Haus.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist Beisitzerin im Bundesvorstand der FDP und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag. Fotografiert am 28. September 2023 im Berliner Pail-Löbe-Haus. © Reto Klar / FUNKE Foto Services

Nato-Generalsekretär Stoltenberg hat Kanzler Scholz jetzt nahegelegt, drei bis vier Prozent in Verteidigung zu investieren – wie Willy Brandt im Kalten Krieg ...

Strack-Zimmermann: Die Zeit des Kalten Krieg mit der von heute zu vergleichen, halte ich für schwierig. Berlin war seinerzeit Frontstadt, Deutschland war Frontstaat. Wir hatten eine Wehrpflichtarmee mit rund 550.000 Männern unter Waffen. Aber der Nato-Generalsekretär hat natürlich recht, wenn er darauf hinweist, dass unsere Sicherheit uns viel Wert sein muss und wir den Beschluss des Nato-Gipfels von Vilnius umsetzen müssen: nämlich mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Verteidigung zu investieren.

Bleibt genug Geld für die Aufnahme von Flüchtlingen? Länder und Kommunen fühlen sich jetzt schon vom Bund im Stich gelassen.

Strack-Zimmermann: Das Thema Migration stellt uns heute vor enorme Herausforderungen, und wir müssen umgehend Maßnahmen ergreifen. Wir brauchen einen konstruktiven, breiten Konsens im Parlament. Und da fordere ich auch die größte Oppositionspartei auf, nicht verbal zu spalten, sondern Ideen einzubringen, die sich auch umsetzen lassen.

CDU und CSU fordern eine Obergrenze für Migration – taugt das als Basis für einen parteiübergreifenden Asylkonsens?

Strack-Zimmermann: Wie soll eine Obergrenze aussehen? Steht da jemand an der Grenze und zählt? Und wenn die 200.000 erreicht sind, wird der Zweihunderttausendunderste abgewiesen? Das war schon unter Horst Seehofer reine Augenwischerei.

Wie denken Sie über den Vorschlag der Union, die Maghreb-Staaten – Marokko, Algerien, Tunesien – in die Liste der sicheren Herkunftsländer aufzunehmen?

Strack-Zimmermann: Es gehört zu verantwortlichem Handeln, die Augen vor der Realität vor allem in den Kommunen nicht zu verschließen. Wir brauchen viele Maßnahmen: Verlässliche Abkommen mit den entsprechenden Ländern, um die Rückführung derer durchzusetzen, die kein Recht auf Asyl haben und nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Anträge auf Einreise nach Deutschland müssen in den deutschen Auslandsvertretungen bereits entschieden werden, bevor sich die Menschen auf den lebensgefährlichen Weg machen. Wir müssen festlegen, welche Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden. Dazu gehören Moldau, Georgien und auch die Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien. Außerdem müssen wir vermehrt auf Sachleistungen statt auf Geldleistungen setzen. Dafür bedarf es einer bundesweiten Bezahlkarte, mit der man den täglichen Bedarf decken kann.

Deutschland verstärkt seine Kontrollen an den Grenzen zu Polen und Tschechien. Wie finden Sie das?

Strack-Zimmermann: Innerhalb Europas sich frei bewegen zu können ist eine wunderbare Errungenschaft. Deswegen sollten punktuelle Kontrollen, wie jetzt zu Polen und Tschechien erforderlich, immer nur eine Ausnahme bleiben. Illegale Migration muss bereits an den europäischen Außengrenzen unterbunden werden.

Ist die europäische Asylreform gut genug, um die Migration wirksam zu begrenzen?

Strack-Zimmermann: Es wurde Zeit, dass Europa endlich gemeinsam handelt. Wir dürfen nie außer Acht lassen, dass wir eine geregelte Einwanderung in unseren Arbeitsmarkt, nicht aber in die Sozialsysteme brauchen. Mit dem Fachkräfte-Einwanderungsgesetz sind wir jetzt einen großen Schritt weitergekommen. Umso wichtiger ist es, den Missbrauch zu unterbinden.

Dieser Artikel erschien zuerst am 29.9.2023

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