Brüssel/Berlin. Vor 40 Jahren verhinderte Stanislaw Petrow in letzter Minute einen Atomkrieg. Warum Experten solche Szenarien auch heute wieder fürchten.
- 1983 wäre es durch einen Fehlalarm fast zu einer atomaren Eskalation gekommen
- Stanislaw Petrow wusste damals: „Wenn ich jetzt einen Fehler machte, löse ich den Dritten Weltkrieg aus“
- Experten halten solche Szenarien weiterhin für möglich
Kurz nach Mitternacht kündigt sich im Luftüberwachungsbunker Serpuchow-15 südlich von Moskau der Dritte Weltkrieg an. Stanislaw Petrow, Oberstleutnant der Sowjetarmee, hat sich gerade eine Tasse Tee gemacht. Als diensthabender Chef des Frühwarnzentrums blickt er von seinem Steuerpult im oberen Stock herunter auf den großen Saal mit 80 Offizieren und Computerspezialisten. An der Stirnwand hängt die große elektronische Weltkarte mit den Standorten feindlicher US-Raketen. Für die Soldaten hat bis eben Routine die Nacht vom 25. auf den 26. September 1983 bestimmt: „Wie immer kontrollierten wir das Satellitensystem“, erinnert sich Petrow später. Doch gegen 0.15 Uhr an diesem Montag wird vollkommen unerwartet Alarm ausgelöst.
Petrow: „Die ganze Festbeleuchtung ging an, die Sirenen heulten auf.“ In großen roten Buchstaben blinkt auf den Bildschirmen das Wort „Raketenstart“. Das Frühwarnsystem meldet den Aufstieg einer amerikanischen Interkontinentalrakete mit maximaler Wahrscheinlichkeit. Der 44-jährige Ingenieur hat einen klaren Auftrag: Er muss die Kommandozentrale informieren, sofort, damit die Führung rechtzeitig den atomaren Gegenangriff auslösen kann. Maximal 25 Minuten bleiben bis zum Einschlag der US-Rakete.
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Die Staatsführung hat die Katastrophe befürchtet. Moskau ist hochnervös, der Kalte Krieg ist zwei Jahrzehnte nach der Kuba-Krise auf einem neuen Höhepunkt. Wenige Wochen zuvor hat die Sowjetunion ein südkoreanisches Passagierflugzeug abgeschossen, 269 Menschen kamen ums Leben. Nun sind KGB-Agenten im Westen wegen eines verdächtigen Nato-Manövers angehalten, alle Anzeichen für Kriegsvorbereitungen zu melden. „Wir sollten besonders wachsam sein“, erinnerte sich Petrow später an die Tagesbefehle. „Jeder Fehler könnte zu unabsehbaren Folgen führen.“
„Wenn ich einen Fehler mache, löse ich den Dritten Weltkrieg aus“
Jetzt also Atom-Alarm: „Es war ein Schock.“ Die Befehlskette ist klar. „Aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich fühlte mich wie auf glühenden Kohlen“, sagte Petrow Jahre danach. Er zögert, wägt ab. Warum nur eine einzelne Rakete? Schließlich ruft der Offizier über das abhörsichere Telefon die Kommandozentrale an – und meldet einen Fehlalarm. In diesem Augenblick schalten die Warnleuchten von Start auf Raketenangriff um. Das Satellitensystem meldet eine weitere Rakete im Anflug, dann eine dritte, eine vierte und fünfte. „Ich wusste, wenn ich jetzt einen Fehler machte, würde ich den Dritten Weltkrieg auslösen.“
Wieder meldet er: „Fehlalarm“. Petrow glaubt nicht an einen Angriff, so verhindert er den sowjetischen Gegenschlag mit Atomraketen.
Nur: Er kann sich nicht sicher sein. Eine Viertelstunde lang herrscht banges Schweigen im Gefechtsstand, erst dann ist klar: Die Radaranlagen am Boden, die jetzt den Anflug der nahenden Raketen registrieren müssten, reagieren nicht. Es gibt keinen Angriff. Petrow spürt, „wie eine Riesenlast von mir abfiel“. Die Ursache für den Fehlalarm wird erst Monate später geklärt: Das Frühwarnsystem hat Reflexionen von Sonnenstrahlen in Wolken als Blitze vom Raketenstart eingestuft.
Sein kühler Kopf im Angesicht des drohenden Weltuntergangs macht Petrow nach dem Ende der Sowjetunion berühmt als „Mann, der die Welt rettete“. Doch was wie ein Kalter-Kriegs-Thriller klingt, hat für Experten heute wieder bedrohliche Aktualität. „Dieser Fall ist ein Beispiel dafür, wie nur durch das beherzte Eingreifen einer Person eine Eskalation zu einem möglichen Atomkrieg verhindert wurde“, sagt der Physiker und Friedensforscher Götz Neuneck vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg unserer Redaktion.
In politischen Krisen steigt die Gefahr eines „Atomkriegs aus Versehen“ an
„Petrow hätte eigentlich aufgrund der Warnung den Gegenschlag initiieren müssen.“ Aus dem Fall lasse sich lernen, dass das System der atomaren Abschreckung unsicher sei, bis heute: „Die Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen ist wieder da angesichts des heutigen Nuklearpotenzials, neuer konventioneller Präzisionswaffen und des Ukraine-Kriegs“, sagt Neuneck.
Abschreckung heiße, durch eigene Atomwaffen Gegner dazu zu bringen, keine Atomwaffen einzusetzen. Aber das sei „eine prekäre Balance, weil es immer mehr Länder mit Atomwaffen gibt und die Waffen immer präziser werden“. Neuneck hat mit anderen Wissenschaftlern und Militärexperten die Initiative „Atomkrieg aus Versehen“ gegründet. In einer Analyse warnen sie, während Phasen politischer Entspannung sei das Risiko sehr gering. Doch in politischen Krisen bestehe die große Gefahr, dass falsche Alarmmeldungen als gültig eingeschätzt, womöglich mit anderen Ereignissen in Verbindung gebracht würden und dann zu Kettenreaktionen führten. Der zunehmende Einsatz von Künstlicher Intelligenz könne die Risiken noch erhöhen.
Wie schnell es zu Irrtümern kommen kann, zeigt ein Vorfall auf der US-Luftwaffenbasis Ramstein in Rheinland-Pfalz: „Luftangriff, Luftangriff, Deckung suchen“, heißt es unter Sirenengeheul bei einem Raketenalarm am 12. Dezember 2020. Der Abschuss von vier Interkontinentalraketen von einem russischen Atom-U-Boot während eines angemeldeten Manövers wurde als russischer Raketenangriff in Europa fehlgedeutet. Neuneck spricht von bislang 20 bis 25 ernsten Vorfällen, in denen Warnsysteme in Ost und West einen gegnerischen Atomangriff gemeldet haben und so die Wahrscheinlichkeit für den Beginn eines Atomkrieges vergrößerten. „Da ist man knapp einem Gegenschlag entronnen. Das stellt die Logik der Abschreckung infrage.“
Russische Mittelstreckenraketen könnten binnen fünf Minuten Berlin erreichen
Als besonders brisant gilt etwa der Zwischenfall, bei dem am 25. Januar 1995 norwegische und amerikanische Forscher eine Rakete in den Himmel über Norwegen schießen, um Nordlichter zu erkunden – genau in jenen Korridor, auf den nach russischen Berechnungen auch amerikanische Atomraketen nach Moskau fliegen würden. Die russischen Streitkräfte schalten auf höchste Alarmstufe, U-Boote bereiten den atomaren Vergeltungsschlag vor, Präsident Boris Jelzin aktiviert erstmals den Atomkoffer mit den Abschusscodes. Dem für seinen starken Alkoholkonsum bekannten Jelzin bleiben keine zehn Minuten für die Entscheidung.
Am Ende verzichtet der Präsident auf den Raketenstart: Die Beziehungen zu den USA sind 1995 recht gut, es besteht eine Vertrauensbasis, Krisen-Anzeichen fehlen. Davon kann spätestens seit dem Ukraine-Krieg keine Rede mehr sein, das macht mögliche Fehleinschätzungen heute so heikel. Zwar gibt es Hinweise, dass die Führungen in USA und Russland wohl auch jetzt im äußersten Notfall geheime Kanäle aktivieren können. So meldete sich Washington während des Wagner-Aufstands Ende Juni im Kreml und ließ sich von der Führung zusichern, dass die russischen Atomraketen nicht in die Hände der Söldner-Truppe fallen würden. Aber ob dieser Draht heute schnell und zuverlässig funktioniert, wenn es auf Minuten ankommt, gilt bei Militärbeobachtern als zweifelhaft.
Längst setzen die Nato-Staaten auch auf Raketenabwehrsysteme, die Atomraketen abfangen können sollen – doch zuverlässigen Schutz bieten die Systeme noch lange nicht, schon gar nicht bei einem massiven Angriff. Und auch nicht gegen Hyperschall-Flugkörper mit unberechenbarer Flugbahn. Mit Mittelstreckenraketen vom Typ Iskander-M, die auch in Kaliningrad stationiert sind, könnten russische Atombomben binnen fünf Minuten Berlin erreichen. Sarmat-Atomraketen bräuchten sogar weniger als zwei Minuten nach Berlin, verkünden Wladimir Putins Militärpropagandisten im russischen Staatsfernsehen. Die kurze Reaktionszeit, die dem Westen bleibe, erhöhe die Fehleranfälligkeit, warnen hohe Nato-Militärs in Brüssel: „Diese gefährliche Unvorhersehbarkeit senkt die Schwelle für jeden Einsatz von Nuklearwaffen in einem Konflikt.“
Während des Ukraine-Kriegs haben die Nato-Staaten bisher mit demonstrativer Zurückhaltung auf Zwischenfälle reagiert, selbst als eine Rakete auf Nato-Gebiet in Ostpolen stürzte; eine ausgefeilte Satellitenaufklärung vor allem der USA verfolgt jede Bewegung rund um russische Atombombendepots.
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Doch die Risiken bleiben. Friedensforscher Neuneck mahnt: „Wenn das New-Start-Abkommen 2026 ausläuft, stehen wir endgültig vor einem neuen Wettrüsten. Wir müssen über nukleare Risikoreduzierung reden, wir brauchen eine neue Vertrauensbildung und dann Schritte zur Abrüstung.“ Könnte Petrow heute die Katastrophe verhindern? Ungewiss, auch wenn er für seine Besonnenheit vielfach geehrt wurde, erst im Stillen von der sowjetischen Militärführung, später mit Glanz und Gloria im Westen.
Er habe doch nur seine Arbeit gemacht, meinte der Offizier. Er habe damals einen Fehlalarm vermutet, weil er gelernt habe, dass die Amerikaner einen Atomkrieg gleich mit Hunderten Raketen starten würden, nicht mit vier oder fünf. Doch wenige Jahre vor seinem Tod 2017 erklärte Petrow, Lage und Strategie hätten sich geändert: Es sei inzwischen gut möglich, dass ein Gegner mit einzelnen Raketen zuerst zentrale Kommunikationsanlagen zerstöre, bevor der massive Angriff beginne. Heute in der gleichen Situation, sagte Petrow, „da würde ich mich anders verhalten“.
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