Brüssel/Berlin. Warum die Ukraine auf Taurus-Marschflugkörper drängt, die Bundesregierung zögert und was andere Staaten tun. Die Fakten zur Debatte.
Der Druck auf die Bundesregierung wächst, ihre Waffenlieferungen an die Ukraine massiv auszuweiten: Die ukrainische Forderung nach deutschen Angriffsmarschflugkörpern vom Typ Taurus findet immer mehr Unterstützung, in Deutschland sowohl in der Koalition als auch in der Union.
Auch zu einem Treffen von Verteidigungsministern und hochrangigen Militärexperten auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein sah sich die Bundesregierung mit den Erwartungen konfrontiert. Warum drängt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj so sehr auf Taurus, was können diese Waffen? Was braucht die Ukraine für ihre Offensive? Was liefern andere westliche Staaten, warum zögert die Bundesregierung? Lesen Sie dazu den Kommentar: Taurus rasch an die Ukraine liefern? Mut zur Besonnenheit!
Taurus-Marschflugkörper: Das macht die Waffe so wertvoll
Es ist ein Marschflugkörper, der von Kampfflugzeugen aus gestartet wird und mit Jetantrieb mehr als 500 Kilometer weit fliegen kann. Er kann feindliches Radar mit hoher Geschwindigkeit knapp über dem Boden unterfliegen – in einer Höhe von unter 50 Metern. Taurus orientiert sich nicht wie ähnliche westliche Waffensysteme über das Satelliten-Navigationssystem GPS – das die Russen stören können –, sondern mit Hilfe von Geodaten zur Geländebeschaffenheit. Mehr zum Thema lesen Sie hier: „Taurus“-Marschflugkörper: Das macht die Waffe so besonders
Schlägt Taurus auf, sprengt eine erste Ladung eine Lücke in das Objekt. Dort dringt dann ein 400 Kilo schwerer, mit Sprengstoff gefüllter Metallstab ein und explodiert. So kann die Waffe unterirdische Bunkeranlagen präzise treffen. Die Bundeswehr hat 600 solcher Marschflugkörper, allerdings sollen nur etwa 150 einsatzbereit sein. Hergestellt werden sie von einer Tochter des Rüstungsunternehmens MBDA Deutschland und des schwedischen Unternehmens Saab Bofors.
Dafür braucht die Ukraine so dringend Taurus
Darum will die Ukraine Marschflugkörper: Ein Ziel der ukrainischen Armee ist es, das militärische Versorgungs- und Führungssystem im russischen Hinterland zu schwächen und damit den Nachschub zu behindern. Marschflugkörper mit größerer Reichweite und präziser Zielerfassung würden benötigt, um in den russisch besetzten Gebieten Munitionsdepots in Bunkern, andere stark gesicherte Stützpunkte und Gefechtsstände, Kommandoposten, Treibstoffdepots, Flughäfen oder auch die S-400-Luftabwehrsysteme zu zerstören, heißt es im Umfeld von Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Die ukrainische Armee will so systematisch die russische Kriegslogistik zerschlagen, bevor die eigentlichen Angriffe mit Panzern und Soldaten erfolgen. Auf ähnliche Weise hatte die Armee die Russen schon an anderer Stelle zurückgeschlagen. Für die neue Offensive liegen die Ziele aber 100, 300 oder 500 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Zu weit für die meisten der bislang vom Westen gelieferten Waffen.
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Die Unterstützer-Staaten, voran die USA, Deutschland und Großbritannien, hatten der Ukraine bis Juni unter anderem 471 Panzer, 379 Haubitzen und 177 Raketenwerfer zur Verfügung gestellt. Dazu kommen Luftabwehrsysteme, die die Ukraine dringend benötigt, um auf die zunehmende Bombardierung mit Raketen und Kamikaze-Drohnen zu reagieren. Mehrere Staaten haben Kiew zwar Kampfjets vom Typ F-16 zugesagt, auf die Selenskyj drängt, damit die Gegenoffensive besser aus der Luft unterstützt werden kann.
Die Kampfjets werden aber wohl frühestens Anfang 2024 einsatzbereit sein. Zuletzt sind Großbritannien und Frankreich einen Schritt weitergegangen mit der Zusage für Marschflugkörper mit mittlerer Reichweite: London und Paris liefern einen gemeinsam entwickelten Marschflugkörper, der in Großbritannien Storm Shadow heißt und in Frankreich Scalp. Er kann mehr als 250 Kilometer weit fliegen – ein Fortschritt für Kiew, aber nur etwa die Hälfte der Distanz von Taurus. Diese Waffen hat die Ukraine offenbar auch vorige Woche bei einem Angriff auf den Krim-Hafen Sewastopol eingesetzt, bei dem das russische Landungsschiff Minsk und das U-Boot Rostow schwer beschädigt wurden.
Taurus-Lieferung: Darum zögert die Bundesregierung
Mit seiner großen Reichweite würde Taurus theoretisch einen Tabubruch ermöglichen: Deutsche Waffen könnten problemlos Ziele auf russischem Staatsgebiet attackieren. Zwar hat die Ukraine zugesichert, westliche Waffen nicht für Angriffe in Russland einzusetzen – das ist eine Bedingung für alle bisherigen Lieferungen der Partner-Länder. Vor allem die USA legten darauf größten Wert, um das Risiko einer Eskalation zu verringern, auch wenn solche Gegenangriffe völkerrechtlich zulässig wären. Die Befürchtung in Berlin nährt sich aber auch daraus, dass die Ukraine mit Drohnen schon Ziele in Moskau attackiert hat – und niemand weiß, wie Kiew sich verhält, wenn sich die militärische Lage zu seinen Ungunsten verändert.
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Reicht dann die Zusage der Ukraine aus, wie Befürworter auch in der Ampel-Koalition meinen? Bundeskanzler Olaf Scholz will auf Nummer sicher gehen. Deshalb wird jetzt offenbar eine Reduzierung der Reichweite vorbereitet – durch eine Umprogrammierung des Navigationssystems. Denkbar ist, dass die Reichweite dann nur noch 300 Kilometer beträgt. Die Einschränkungen benötigen Zeit. Ebenso die Ausbildung ukrainischer Soldaten an dem System.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) meinte zuletzt, es sei offen, ob die Taurus-Flugkörper überhaupt ohne Hilfe von Bundeswehr-Soldaten eingesetzt werden könnten – aber dass deutsche Soldaten in der Ukraine beim Einsatz helfen, gilt in Berlin als völlig ausgeschlossen. Es seien noch viele politische, rechtliche, militärische und technische Aspekte zu klären, so Pistorius: „Es ist noch nichts entschieden.“ Auch wenn die Bundesregierung am Ende grünes Licht gibt, dürfte es noch Monate dauern, bis die Ukraine die Waffen tatsächlich einsetzen könnte.
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Streit um Taurus: Der Druck auf Berlin nimmt zu
Bislang hatte Kanzler Scholz auch mit dem Hinweis gebremst, dass die USA ebenfalls mit der Lieferung solcher Waffen zögern. Dabei geht es um die von der Ukraine gewünschten Lenkflugkörper vom Typ Atacms (Army Tactical Missile System), die eine Reichweite von 300 Kilometern haben. Sie werden mit den schon nach Kiew geschickten Himars-Raketenwerfern vom Boden aus abgefeuert und sollen ebenfalls die russischen Nachschublinien zerstören. In Washington gibt es nun offenbar Bewegung.
Erst sagte US-Präsident Joe Biden die von mehr als hundert Staaten geächtete Streumunition zu. Nun gibt es Anzeichen, dass die USA im Herbst auch Atacms-Raketen liefern. Damit wächst der Druck auf Berlin. Beim Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe am Dienstag in Ramstein versuchte die Bundesregierung aber, zunächst andere Waffen ins Schaufenster zu stellen: Die Zusage für ein neues 400 Millionen Euro teures Paket aus Deutschland umfasst Sprengmunition, Mörsermunition, Minenraketen, dazu Minenräumsystem und geschützte Fahrzeuge sowie Winterkleidung, Stromgeneratoren und Heizgeräte.
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