Berlin. Forscher haben die ältesten bisher bekannten Individuen mit Zwischengeschlechtlichkeit ermitteln können. Ein großer Durchbruch.
Forscher des Londoner Francis-Crick-Instituts haben in Zusammenarbeit mit Archäologen der Universität Oxford eine neue Methode entwickelt, um die Anzahl von Chromosomen im Erbgut von menschlichen Überresten zu messen. Damit konnten sie die ersten prähistorischen Menschen mit Zwischengeschlechtlichkeit identifizieren: Die bis zu 2500 Jahre alten Gebeine wiesen Chromosomensätze auf, die entweder ein Geschlechtschromosom zu wenig oder zu viel haben.
Älteste bekannte Personen mit Intergeschlechtlichkeit ermittelt
Weil alte DNA-Proben im Verlauf der Zeit zerfallen oder von anderer DNA kontaminiert werden können, ist die Untersuchung von alten Gewebeproben auf Geschlechtschromosomen sehr schwer. Das Team um Kyriaki Anastasiadou vom Francis Crick Institute hat daher eine neue Methode zur Analyse alter DNA entwickelt. Dabei wird die Zahl der vorhandenen Kopien aller Chromosomen in einer DNA-Probe gezählt und die Zahl der Geschlechtschromosomen mit der Zahl der 23 nicht-geschlechtlichen Chromosomen verglichen.
Aus einem großen Datensatz von Individuen, die vor 2500 bis 250 Jahren während der Eisenzeit, des Mittelalters oder der frühen Neuzeit in Europa lebten, analysierten die Forscher 570 DNA-Proben.
Im Rahmen der in der Fachzeitschrift „Communication Biology“ veröffentlichten Studie konnten die Forscher nun die ältesten bekannten Personen ermitteln, die nicht in die Geschlechterkategorien XX (weiblich) und XY (männlich) fielen: Es wurden die Überreste einer Person mit Turner-Syndrom und Jacobs-Syndrom sowie drei Personen mit Klinefelter-Syndrom identifiziert.
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Archäologischer Fund: Überbleibsel von Männern mit X-Chromosom
Die meisten Zellen im menschlichen Körper haben 23 Chromosomenpaare, einschließlich der Geschlechtschromosomen, die normalerweise XX (weiblich) oder XY (männlich) sind. Unabhängig von Unterschieden in der sexuellen Entwicklung liegt eine genetische Normabweichung vor, wenn menschliche Zellen ein zusätzliches oder ein fehlendes Chromosom haben.
Betrifft dieses Aufkommen die Geschlechtschromosomen, das heißt, ein Mensch hat ein Geschlechterchromosom zu viel oder zu wenig, dann ist er oder sie genetisch intergeschlechtlich. Als Folge kann es zu Entwicklungsstörungen, bestimmten äußerlichen Merkmalen und körperlichen Benachteiligungen kommen.
Das sogenannte Klinefelter-Syndrom liegt vor, wenn ein Mann ein zusätzliches X-Chromosom hat. Es ist gekennzeichnet durch eine geminderte Intelligenz, kleine Hoden, Unfruchtbarkeit, lange Arme und Beine und eine große Körpergröße.
Die drei in der Untersuchung identifizierten Personen mit Klinefelter-Syndrom lebten in unterschiedlichen Zeitabschnitten, hatten aber einige für das Syndrom typische Gemeinsamkeiten: Alle waren etwas größer als der Durchschnitt und zeigten Anzeichen einer verzögerten Entwicklung in der Pubertät. Zwei von Ihnen starben mit etwa 18, der Dritte mit etwa 45 Jahren.
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Turner-Syndrom: Frau hatte mit 22 noch nicht Pubertät durchlaufen
Eines der Individuen hatte laut der Studienergebnisse das Mosaik-Turner-Syndrom. Beim Turner-Syndrom fehlt den betroffenen Mädchen oder Frauen eins von zwei weiblichen Geschlechtschromosomen. Sie sind in der Regel kleinwüchsig, haben unter anderem sexuelle Entwicklungsstörungen, einen kurzen Hals, einen breiten Brustkorb und Zahnfehlstellungen.
Die schätzungsweise 18–22 Jahre alte Frau hatte zum Zeitpunkt ihres Todes wahrscheinlich noch nicht die Pubertät durchlaufen oder die Menstruation begonnen. Sie besaß in einigen Zellen ihres Körpers zwei X-Chromosomen, in anderen jedoch nur ein X-Chromosom.
Bisher ältester Junge mit zwei Y-Chromosomen identifiziert
Darüber hinaus fanden die Forscher Überbleibsel einer Person mit dem Jacobs-Syndrom. Bei der Anomalie sind Jungen mit zwei Y-Chromosomen geboren. Betroffene werden in der Regel sehr groß und haben Lernstörungen.
Die Funde sind damit die ältesten bekannten Personen mit dieser Form von Intersexualität. „Durch die genaue Messung der Geschlechtschromosomen konnten wir die ersten prähistorischen Beweise für das Turner-Syndrom vor 2500 Jahren und das früheste bekannte Auftreten des Jacob-Syndroms vor etwa 1200 Jahren nachweisen“, sagt Forschungsleiterin Anastasiadou in „News Medical“.
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Intersexualität: Keine Auffälligkeiten bei den Grabstätten
Die Individuen sind trotz ihrer Intersexualität und körperlichen Anomalien für die jeweilige Zeit typisch bestattet worden, heißt es in der Forschungsarbeit. Die Gräber waren nicht ungewöhnlich und man fand keine Grabbeigaben. Das deutet laut den Wissenschaftlern darauf hin, dass sie von ihren Mitmenschen akzeptiert und als gewöhnlich erachtet wurden.
„Es ist schwierig, sich ein vollständiges Bild davon zu machen, wie diese Individuen lebten und mit ihrer Gesellschaft interagierten, da sie nicht mit Besitztümern oder in ungewöhnlichen Gräbern gefunden wurden. Aber es kann einen Einblick geben, wie sich die Wahrnehmung der Geschlechtsidentität im Laufe der Zeit entwickelt hat“, so Forschungsleiterin Kyriaki Anastasiadou.
Forschungsmethode eröffnet neue Möglichkeiten
Mit den Studienergebnissen eröffnen die Londoner Forscher eine neue Chance für die Archäologie. „Die Ergebnisse dieser Studie bietet aufregende neue Möglichkeiten für die Erforschung des Geschlechts in der Vergangenheit und gehen über binäre Kategorien hinaus. Ohne die Fortschritte bei der Analyse alter DNA wäre das unmöglich“, sagte Rick Schulting, Professor für wissenschaftliche und prähistorische Archäologie an der Universität Oxford in „Technology Networks“.