Berlin. Die verlässlichsten Fallzahlen zu Corona kommen aus Rheinland-Pfalz. Studienleiter Philipp Wild über hohe Inzidenzen und die Folgen.

  • Wie verlässlich sind die offiziellen RKI-Zahlen wirklich?
  • Offenbar gibt es „eklatante Unterschiede“ zur tatsächlichen Corona-Lage
  • Lesen Sie hier, wie hoch die Inzidenz einer aktuellen Studie zufolge ist

Die aktuell einzig ernstzunehmende Corona-Fallzahlstudie in Deutschland kommt aus Rheinland-Pfalz. An ihr beteiligen sich mehr als 13.000 repräsentativ ausgewählte Erwachsene aus fünf Großstädten. Sie testen sich einmal pro Woche und melden das Ergebnis und weitere Informationen per App. Studienleiter Prof. Philipp Wild spricht über Inzidenzen und die Folgen.

Herr Wild, wie sind die Zahlen?

Philipp Wild: Unsere Daten unterscheiden sich aufgrund des Studiendesigns mit einer Sentinelkohorte, also einer ausgewählten Gruppe von Menschen, die sich unabhängig von Beschwerden regelmäßig testen, eklatant von den offiziellen Corona-Zahlen des Robert Koch-Institut(Sieben-Tage-Inzidenz von 30, Anm. d. Red.). Aktuell gibt es in Rheinland-Pfalz eine Sieben-Tage-Inzidenz von etwa 3300 Infektionen pro 100.000 Einwohner (Stand 23. Dezember 2023), vor einer Woche lag sie noch bei 3928. Das sind die höchsten Inzidenzen seit Studienbeginn im Dezember 2022. Ende Februar, zur Karnevalszeit, gab es mal eine ähnlich hohe Inzidenz von 3074. Es sind also gerade vergleichsweise wieder sehr viele Menschen von einer Corona-Infektion betroffen.

Aus rechtlichen, organisatorischen und ethischen Gründen haben Sie Kinder und Jugendliche nicht in die Studie mit eingeschlossen. Die wahre Inzidenz in Rheinland-Pfalz dürfte also noch höher sein?

Wild: Das ist korrekt. Die Inzidenz in der Gesamtbevölkerung ist höher, weil natürlich auch Kinder und Jugendliche infiziert sind.

Corona: Das ambulante System ist stark gefordert

Wie gefährlich ist diese Inzidenz?

Wild: Das Gesundheitssystem, vor allem die Krankenhäuser, sind damit nicht überlastet. Die Überforderung der Vergangenheit mit sehr vielen schweren Verläufen gibt es aktuell nicht. Aber das ambulante System ist stark gefordert, weil es ja auch noch andere

Infektionserkrankungen

Nahezu jeder kennt irgendjemanden, der gerade hustet oder schnieft. Die Virenmenge in Deutschland ist aktuell auf hohem Niveau.
Nahezu jeder kennt irgendjemanden, der gerade hustet oder schnieft. Die Virenmenge in Deutschland ist aktuell auf hohem Niveau. © Maurizio Gambarini/dpa
Die Zahl der Atemwegserkrankungen nimmt vor den Feiertagen immer noch zu.
Die Zahl der Atemwegserkrankungen nimmt vor den Feiertagen immer noch zu. © Bernd Weißbrod/dpa
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gibt, die in dieser Jahreszeit gehäuft auftreten.

Welche Erwachsenen stecken sich denn gerade besonders oft mit Corona an?

Wild: In unseren Stichproben sind das derzeit die 25- bis 34-Jährigen. Da liegt die Inzidenz bei 4959.

Vor einigen Wochen war die Inzidenz bei den Über-75-Jährigen noch höher als bei den Jüngeren. Schützen sich die älteren Menschen wieder vermehrt?

Wild: Was da genau passiert, können wir mit Zahlen nicht belegen. Aber im Straßenbild und auch in Bus und Bahn sieht man ja wieder häufiger Menschen, die eine Maske tragen. Und auch einige Kliniken haben zum Schutz der Patientinnen und Patienten vorübergehend wieder eine Maskenpflicht für Besucher und Personal eingeführt.

Prof. Philipp Wild von der Unimedizin in Mainz.
Prof. Philipp Wild von der Unimedizin in Mainz. © IMB Mainz | IMB

Wer coronapositiv ist, meldet bei ihrer Studie auch Corona-Symptome. Was ist da vorherrschend?

Wild: Die verschiedenen Virusvarianten verursachen tatsächlich unterschiedliche Symptome. Bei manchen Varianten gab es zum Beispiel mehr Durchfälle oder auch eine belegte, veränderte Zunge. Grundsätzlich berichten die Betroffenen aber meist von Symptomen eines grippeartigen Infektes mit Abgeschlagenheit, Fieber und Gelenkschmerzen. Und es gibt tatsächlich aber auch wieder sehr viele Menschen, die infiziert sind, aber kaum oder gar keine Symptome haben.

Was schlussfolgern Sie aus den gemeldeten Fallzahlen und Krankheitsverläufen?

Wild: Wir sind in einer endemischen Situation angekommen. Das Corona-Virus hat in seiner Gefährlichkeit Gott sei Dank abgenommen. Aber wir haben immer noch eine hochdynamische Entwicklung. Und es gibt noch immer Menschen, die längerfristig unter den Folgen einer Infektion leiden. Sie haben auch drei bis sechs Monate danach noch Beschwerden. Zum Glück nehmen diese dann im weiteren Verlauf deutlich ab. Aber am Thema Langzeitfolgen müssen wir dranbleiben. Das ist wichtig für die Betroffenen, aber auch für das Gesundheits- und Wirtschaftssystem. Dieses Thema ist noch nicht vorbei.

Abwasseranalyse als Nachweis steigender Inzidenzen funktioniert

Wie beurteilen Sie grundsätzlich den Studienverlauf und die Ergebnisse?

Wild: Man kann recht viel daraus lernen. Erstens: Ein solches Instrument wäre in der Zeit der Pandemie sehr wichtig gewesen, um zielgenauer die Maßnahmen steuern zu können. Wir sehen nämlich, dass sich Inzidenzen sehr stark unterscheiden können. Das Wissen darüber hätte geholfen, Maßnahmen besser anpassen zu können. Zum Zweiten zeigt die Studie, dass man am Abwasser tatsächlich mit einem Vorlauf von zwei Tagen steigende Inzidenzen nachweisen kann. Das funktioniert. Und drittens: Die Möglichkeit der Interaktion mit der Bevölkerung mittels digitaler Medien, unsere Studienteilnehmer nutzen ja eine App, klappt hervorragend. Man kann von der Bevölkerung vieles beinahe in Echtzeit in Erfahrung bringen und dabei auch komplexere Themen erfassen.

Welche komplexen Themen denn?

Wild: Wir haben zum Beispiel sehr differenzierte Eindrücke gewonnen zum Thema Impfen. Es waren nicht nur Verschwörungstheoretiker, die sich nicht impfen lassen wollten. Unter denen , die eine Impfung abgelehnt haben, waren zum Beispiel viele junge Frauen, die sich Sorgen um ihre Familienplanung gemacht haben. Darüber, dass eine Impfung Konsequenzen für künftige Schwangerschaften haben könnte. Da hätte man offenbar einige Zielgruppen mit noch fehlender Impfbereitschaft anders informieren müssen.

Haben wir mit Ihrer Sentinelkohorte jetzt ein wirksames Instrument für kommende Pandemien, um einen Datenblindflug wie zu Beginn der Coronazeit verhindern zu können?

Wild: Absolut. Es wäre sinnvoll, dies jetzt auch noch in anderen Bundesländern zu testen, noch mehr Fragestellungen herauszuarbeiten und Schwächen im System abzustellen. Aus meiner Sicht ist es aber ein viel besseres Instrument als jene, die wir in der Vergangenheit hatten. Die Pandemie hat uns alle sehr belastet, deswegen halte ich es für sehr wichtig, dass wir die digitale Kommunikation in Zukunft nutzten, um den Entscheidungsträgern mehr Datengrundlage für Ihre Entscheidungen zu liefern. Das ist wichtig, um bei Pandemien sich nicht zu sehr nur auf Mutmaßungen verlassen zu müssen. Darüber hinaus hat unsere Studie aber auch Entwicklungspotenzial für die Zukunft.

Was meinen Sie damit?

Wild: Man könnte sich vorstellen, dass man mit solch einer Studie auch andere Gefahren für die Gesundheit in der Bevölkerung steuert und überwacht – Übergewicht, Rauchen oder schlechte Ernährung zum Beispiel. Man könnte ausgewählte Bevölkerungsgruppen darum bitten, auch dazu Informationen bereitzustellen, um daraus zu lernen und die geeigneten Maßnahmen für Prävention und Gesundheit abzuleiten.

Zur Person: Philipp Wild

Prof. Philipp Wild ist Leiter Präventive Kardiologie und Medizinsche Prävention sowie Leiter Klinische Epidemiologie und Systemmedizin an der Universitätsmedizin in Mainz. Darüber hinaus leitet er „SentiSurv“, die landesweite Corona-Studie in Rheinland-Pfalz, an der sich mehr als 13.000 Erwachsene beteiligen. Rheinland-Pfalz ist das einzige Bundesland, das so umfassend Daten zu Infektionen und Infektionsschutz sammelt, auswertet und veröffentlicht. Die Studie läuft seit Dezember 2022. Sie ist zunächst bis April 2024 konzipiert.