Berlin. Herzinfarkt, Demenz und Corona: Johannes Nießen baut das Bundesinstitut für Prävention auf – und kennt Tricks, um gesund zu bleiben.

Johannes Nießen ist Allgemeinmediziner und war viele Jahre Leiter des Kölner Gesundheitsamts. In der Corona-Pandemie übernahm er den Vorsitz des Bundesverbands der deutschen Amtsärzte. Jetzt baut der 66-Jährige das neue Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) auf, das 2025 starten soll. Im Interview sagt der Mediziner, wie er schaffen will, dass die Deutschen gesünder und älter werden – und was jeder selbst dafür tun kann.

Das halbe Land schnieft und hustet gerade. Ihr persönlicher Tipp, um die Abwehr zu stärken?

Johannes Nießen:Gesunde Ernährung, viel Bewegung möglichst draußen und genug Schlaf – das ist am wichtigsten. Auf Nikotin sollte man möglichst ganz verzichten. Und wenn Alkohol getrunken wird, dann nur maßvoll. Außerdem trage ich beim Fahren mit Bus und Bahn Maske, um mich nicht anzustecken.

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Was sollte man tun, damit die Festtage nicht zum Superspreader-Event für das Coronavirus werden?

Nießen: Allgemein gilt: Menschen über 60 Jahre, aber auch chronisch Kranke, sollten sich jetzt gegen Corona und Grippe impfen lassen. Und wer Erkältungssymptome hat, sollte seine Kontakte, so gut es geht, reduzieren, um möglichst wenige anzustecken.

Der Jahreswechsel ist die Zeit der guten Vorsätze für ein gesünderes Leben. Die wenigsten halten durch. Was hindert uns? Der innere Schweinehund?

Nießen: Wir betreiben in Deutschland seit über 50 Jahren gesundheitliche Aufklärung. Das Ergebnis ist ernüchternd. Der Alkoholkonsum liegt bei uns zum Beispiel deutlich über dem EU-Durchschnitt. Wir haben das Wissen, aber die Umsetzung klappt oft nicht.

Also doch der Schweinehund?

Nießen: Forscher der Uni Erfurt sind der Sache nachgegangen: Sie haben mit Blick auf das Impfen in der Corona-Pandemie nachgewiesen, dass direkte Ansprache und intensive Aufklärung eine Änderung des Verhaltens bewirken können. In einer Befragung wollten sich 17 Prozent nicht impfen lassen. Nach einer ausführlichen Beratung waren es nur noch ein bis zwei Prozent. Man muss die Menschen persönlich abholen, um Verhaltensänderungen zu bewirken. Es wird die Aufgabe des neuen Bundesinstituts sein, die Lücke zwischen Wissen und Handeln zu überwinden.

Wie gesund sind die Deutschen im internationalen Vergleich?

Nießen: Wir geben in Deutschland im Schnitt knapp 5000 Euro im Jahr pro Bürger für die medizinische Versorgung aus – für Arztbesuche, Medikamente, Klinikaufenthalte. Der EU-Durchschnitt liegt bei 3200 Euro. Gleichzeitig liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland mit 80,8 Jahren zwei bis drei Jahre hinter anderen EU-Ländern wie Frankreich oder Spanien. Die Deutschen könnten also deutlich länger leben. Wir geben enorm viel aus und erreichen zu wenig.

Johannes Nießen, Allgemeinmediziner und ehemaliger Leiter des Kölner Gesundheitsamts, baut gerade das neue Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) auf.
Johannes Nießen, Allgemeinmediziner und ehemaliger Leiter des Kölner Gesundheitsamts, baut gerade das neue Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) auf. © Funke Foto Services | Reto Klar

Was wollen Sie anders machen?

Nießen: Wir wollen mehr Wert auf vorbeugende Medizin legen, um Krankheiten zu bekämpfen, bevor sie entstehen. Wir geben pro Kopf 1800 Euro mehr für Gesundheit aus als der EU-Durchschnitt. Wenn wir einen Großteil dieser Differenz in Vorsorge stecken würden, wäre schon viel gewonnen. Das ist aktuell nicht der Fall.

Welche Volkskrankheiten bereiten Ihnen die meisten Sorgen?

Nießen: Jeder Dritte stirbt heute an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, an Herzinfarkt oder Schlaganfall. 21,7 Prozent der Todesursachen sind Krebserkrankungen. Aber auch Demenz und psychische Erkrankungen nehmen gerade stark zu. Wichtig ist mir aber auch, die Jahre bei guter Gesundheit und geistiger Fitness auszubauen und die Zeit der Krankheit und Pflegebedürftigkeit insgesamt zu senken.

Was kann der Staat gegen Demenz tun?

Nießen: Solange es keine Medikamente gegen Demenz gibt, ist Vorsorge unser bestes Mittel. Wer sich gegen Demenz wappnen will, sollte drei Dinge tun: Vielfältige soziale Kontakte pflegen, altersgemäß Sport treiben – für Ältere heißt das mindestens eine halbe Stunde Spazierengehen pro Tag – und sich gesund ernähren. Optimal ist ein Body-Mass-Index von 25 bis 30. Es gibt bereits Kampagnen, die genau das fördern. Wir schauen uns jetzt an, wie wir die einzelnen Zielgruppen noch besser erreichen können.

Woher wissen Sie, was wirkt und was nicht?

Nießen: Wir wollen im kommenden Jahr eine Langzeitumfrage mit 30.000 Teilnehmern starten, um die Gesundheitslage der Bevölkerung zu erfassen. Die repräsentative Gruppe wird alle drei Monate zu ihrem Gesundheitsverhalten befragt. Was macht ihr? Wie geht es euch? Auf diese Weise können wir verlässlich sehen, ob eine Vorsorgekampagne funktioniert oder nicht.

Rauchen ist die häufigste vermeidbare Todesursache in Deutschland. Wie ist die Lage?

Nießen: Vor der Pandemie hatten wir einen klaren Rückgang bei den Raucherzahlen, gerade auch bei Jugendlichen. In der Pandemie hat sich das geändert. Seit Corona rauchen Jugendliche wieder viel stärker: Bei den über 14-Jährigen hat die Zahl der Raucher um 5,8 Prozent zugenommen.

Welche Folgen hat dieser Trend?

Nießen: 130.000 Menschen sterben bereits jetzt jedes Jahr an den Folgen des Nikotinkonsums. Neun von zehn Fällen von Lungenkrebs sind durch das Rauchen bedingt. Diese Zahlen könnten steigen. Das Problem dabei: Die Konsequenzen vom Rauchen merkt man nicht als 17-Jähriger, das merkt man dann als 40-Jähriger, wenn man Luftnot hat. Starke Raucher riskieren etwa sieben Jahre Lebenszeitverkürzung.

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Es ist ja schon viel passiert – Rauchverbote, Warnhinweise, Werbeverbote. Sollte das Rauchen im Auto verboten werden?

Nießen: Wenn Kinder im Auto mitfahren, sollte man als Erwachsener nicht rauchen. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Darauf muss das BIPAM nicht hinweisen. Wir sind keine Verbotsinstitution. Es hilft auch nichts, Jugendlichen auf Zigarettenschachteln Bilder von verkohlten Lungen zu zeigen. Damit erreicht man sie nicht. Wir wollen den Leuten vielmehr zeigen, dass es sich besser anfühlt, ohne Nikotin zu leben. Ein Beispiel: Wir wollen für den Mai als rauchfreier Monat werben – analog zum „Dry January“, dem Monat ohne Alkohol.

30.000 Menschen sterben bereits jetzt jedes Jahr an den Folgen des Nikotinkonsums. 
30.000 Menschen sterben bereits jetzt jedes Jahr an den Folgen des Nikotinkonsums.  © DPA Images | Armin Weigel

Im vergangenen Sommer sind wieder Tausende Menschen an den Folgen der Hitze gestorben. Sind wir für den nächsten Sommer besser vorbereitet?

Nießen: Wir sind zumindest besser vorbereitet als in den vergangenen Jahren. Jetzt ist es wichtig, dass der Hitzeschutz auch vor Ort funktioniert: Wir werden den 378 Kommunen einen Instrumentenkasten mit Maßnahmen und Ideen zur Verfügung stellen und ihnen so helfen, einen Hitzeaktionsplan aufzustellen. Wichtig ist, dass die Menschen nicht nur ihr Verhalten ändern, sondern auch, dass sich die Städteplanung an den Klimawandel anpasst. Und besonders ältere Menschen, die zu Hause leben, müssen wir erreichen. Wir wollen den bundesweiten Hitzeaktionstag am 6. Juni 2024 nutzen, um zum Start des meteorologischen Sommers die Hilfsangebote in den Kommunen zu starten.

Als Vorsitzender der Amtsärzte haben Sie das Land durch die Pandemie begleitet. Wie gefährlich wird der vierte Corona-Winter?

Nießen: Dieser Winter ist nicht vergleichbar mit den vergangenen. Und wir sind auch nicht mehr in der Pandemie. Jeder Einzelne sollte trotzdem schauen, wie er sich am besten schützt.

Sind die Gesundheitsämter für eine neue Pandemie gerüstet?

Nießen: Die Gesundheitsämter sind jetzt eindeutig besser aufgestellt als 2020. Die vier Milliarden Euro, die wir für den Öffentlichen Gesundheitsdienst in die Hand genommen haben, wirken. Fast 4.000 neue Stellen wurden besetzt. Über 300 große Digitalisierungsprojekte haben wir gefördert. Es gibt sogar drei neue Professuren für Öffentliches Gesundheitswesen. Und was das Erfreulichste ist: Viele junge Ärztinnen und Ärzte sehen bei den Gesundheitsämtern heute eine gute Alternative zu Praxis oder Krankenhaus. Und das zu Recht, wie ich finde.

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