Berlin. Nach der Corona-Pandemie kommen Kinder häufiger verfrüht in die Pubertät. Wissenschaftler haben einen Verdacht, warum das der Fall ist.
„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen“, hatte Jens Spahn im April 2020 gesagt – und damit versucht, politisches Handeln in einer völlig offenen Lage zu rechtfertigen. Das viel beachtete Zitat des damaligen CDU-Gesundheitsministers fiel in die erste Corona-Welle. Damals, als Spielplätze geschlossen, Treffen in der Wohnung verboten und Kinder die Schulbank missen mussten, war nicht nur über das Virus wenig bekannt. Auch die Folgen physischer – und damit auch sozialer –Distanz waren nicht vorhersehbar.
Heute, fast vier Jahre später, ist das anders. Dass Kinder immer früher in die Pubertät kommen, war zwar bereits in den Vorjahren der Pandemie bekannt. Doch die Corona-Zeit scheint diesen Effekt verstärkt zu haben: „Es wurden 20 bis 30 Prozent mehr Fälle verfrühter Pubertät erfasst“, sagt Bettina Gohlke von der Universitätskinderklinik Bonn. Das Phänomen sei weltweit aufgefallen, entsprechende Daten gebe es aus Europa ebenso wie aus den USA und China.
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Frühere Pubertät durch Corona: Ist Übergewicht die Ursache?
„Pubertas praecox“ heißt diese verfrühte Pubertät, bei der äußere Sexualmerkmale bei Jungen vor dem vollendeten neunten und bei Mädchen vor dem vollendeten achten Lebensjahr ausgeprägt sind. Bei den Mädchen entwickelt sich dann unter anderem die Brust.
Es gibt verschiedene Gründe, warum die Pandemie der verfrühten Pubertät Vorschub geleistet haben könnte. Eine Vermutung zum Corona-Effekt war, dass die frühere körperliche Entwicklung den Eltern eher auffiel, weil sie im Zuge von Schulschließungen und Homeoffice mehr Zeit mit ihren Kindern verbrachten.
Möglich sei auch ein Zusammenhang mit höherer psychosozialer Belastung, erklärt Kinderendokrinologin Gohlke. Frühere Studien hätten ergeben, dass Kinder in solchen Situationen körperlich früher reifen. Diskutiert werde zudem ein Gewichtseffekt: Viele Kinder aßen in der Pandemie mehr beziehungsweise bewegten sich merklich weniger – und Übergewicht gilt als einer der wichtigsten Faktoren für eine früh einsetzende Pubertät.
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Unklar, ob der Effekt nach der Pandemie rückläufig ist
„Aber auch, wenn das Gewicht herausgerechnet wurde, blieb ein Plus an Fällen von Pubertas praecox“, sagt Gohlke. „Vermutlich handelt es sich um einen multifaktoriellen Effekt.“ Unklar sei bisher, ob er sich mit dem Abklingen der Pandemie wieder verflüchtige.
Biologisch setzt die Pubertät mit der vermehrten Produktion von Geschlechtshormonen ein, wie der Münchner Endokrinologe Günter Stalla erklärt. Bei Jungen vergrößern sich demnach in der Folge Hoden und Hodensack, gefolgt von einer Verlängerung des Penis. Scham- und Achselhaare wachsen. Bei Mädchen entwickeln sich die Brüste, kurz darauf beginnt die Scham- und Achselbehaarung zu wachsen, Jahre später folgt die erste Regelblutung.
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Pubertät beginnt früher und dauert länger
Daten eines Forschungsteams um Gohlke zufolge ist das durchschnittliche Alter bei Pubertätsbeginn bei Mädchen seit den 70er-Jahren um etwa drei Monate pro Jahrzehnt gesunken. Bei Jungen sei die Entwicklung ähnlich. Das Alter am Pubertätsende hingegen verschob sich in den vergangenen 50 Jahren nicht – die Pubertät dauert also im Mittel länger als früher. Kaum verändert hat sich auch das durchschnittliche Alter bei der ersten Regelblutung.
Prinzipiell sei vor allem genetisch festgelegt, wann die Hormonausschüttung und damit die Pubertätsmaschinerie anspringe, erklärt der Hamburger Endokrinologe Stephan Petersenn. Einfluss haben aber auch Faktoren wie anhaltende psychische Belastung und Ernährung. Übergewicht gilt als maßgeblich für die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte: Im Fettgewebe entstehe dann vermehrt der Botenstoff Leptin, der die Pubertät vorantreibe, so Petersenn, Mediensprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). Je dicker ein Kind, desto früher entwickelt es sich also zum Erwachsenen.
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Kinder aus einkommensschwächeren Familien besonders betroffen
Das Einsetzen der Pubertät hänge also immer auch mit dem Lebensstandard in der Gesellschaft zusammen, so Petersenn. Es sei gut vorstellbar, dass es auch in der Vergangenheit immer wieder deutliche Schwankungen beim Startalter gegeben habe. Aktuell treffe eine verfrühte Pubertät Kinder aus einkommensschwächeren Familien anteilig häufiger, weil sie öfter übergewichtig seien, sagt Stalla, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie. „Gesundheit hängt von sozialem Status und Bildung ab, das zeigt sich auch hier.“
Einfluss hat nach Annahme vieler Experten neben Übergewicht auch, dass Kinder heutzutage einem ganzen Cocktail hormonell wirkender Substanzen ausgesetzt sind. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Einfluss hat“, betont Gohlke. Auch Stalla und Petersenn sehen klare Anzeichen dafür. „Das Problem ist der Mangel an Studien“, erklärt Gohlke. Aus Tierversuchen ließen sich nur bedingt Rückschlüsse ziehen, klinische Studien am Menschen seien in dem Bereich nicht möglich.
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„Man reift früher zu erwachsenem Denken heran“
Was bedeutet eine nach den aktuellen medizinischen Leitlinien zu früh einsetzende Pubertät für ein Kind? „Die einsetzende Pubertät ist ein Wachstumsbeschleuniger“, erklärt Stalla. Vorzeitig pubertierende Kinder schießen also zunächst rascher in die Höhe – doch es gibt bei ihnen einen gegenläufigen Prozess, der zur Folge hat, dass sie im Mittel letztlich kleiner bleiben als später in die Pubertät startende. Die Sexualhormone, die das Wachstum zunächst beschleunigen, sorgen auch dafür, dass es verfrüht endet, indem die Wachstumsfugen geschlossen werden.
Neben solchen körperlichen Folgen kann es psychische geben, wie Petersenn sagt. Und das nicht nur deshalb, weil Kinder sich zum Beispiel für Brustwachstum oder Behaarung schämten: Mit einsetzender Pubertät veränderten sich auch die Art zu denken und die Gefühlswelt, was zu Problemen im Freundeskreis führen könne, erklärt Petersenn. „Man reift früher zu erwachsenem Denken heran.“
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Therapie mit Botenstoffen kann verfrühte Pubertät aufhalten
Diskutiert werden unter Experten auch mögliche Langzeitfolgen wie ein höheres Risiko für bestimmte Krankheiten – gesicherte Erkenntnisse fehlen aber. „Richtig gute Daten zu Langzeitfolgen gibt es nicht“, sagt Gohlke.
Stoppen lässt sich der verfrühte Pubertätsstart – durch das Spritzen synthetischer Botenstoffe, die die Produktion von Sexualhormonen stoppen, alle drei Monate. Bei Mädchen, die mit sieben bis siebeneinhalb Jahren in die Pubertät starten, entschieden sich das Kind beziehungsweise seine Eltern in etwa der Hälfte der Fälle gegen eine solche Therapie, ist Gohlkes Erfahrung. Manche Eltern oder auch das Kind selbst stresse die Diagnose hingegen sehr.
Für das Größenwachstum spiele die Therapie keine Rolle mehr, erklärt die Medizinerin. Dafür müsse sie früher, vor dem sechsten Lebensjahr, beginnen. Solche Fälle seien aber selten.