Kreuztal/Siegen. Bei Kreuztalklassik in Dreslers Park tritt Nabil Shehata zum letzten Mal als Chefdirigent ans Pult. Ein Blick zurück auf die letzten Monate.
Seltsame Kulturwelt. Man freut sich auf ein Open-Air-Konzert bei zunächst besten äußeren Voraussetzungen. Und dann fokussiert sich in Dreslers Park fast alles auf eine Person, den Chefdirigenten, der heute seinen letzten Arbeitstag hat. Man sieht genau hin und hört ebenso genau zu. Wie kommt Nabil Shehata auf die Bühne, wie wird er von Landrat Andreas Müller verabschiedet, wie ist beider Mienenspiel, wie kommuniziert er mit seinen Musikern und sie mit ihm, gibt es einen Blumenstrauß oder ein Abschiedsgeschenk oder einen letzten Gruß des Maestros an das Publikum, das am Tag danach nicht mehr seins ist, vielleicht sogar stehenden Beifall?
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Nun, alles wird professionell emotionslos, aber nicht herzlich abgewickelt. Mit freundlichen Worten des Landrats, einem undefinierbaren Lächeln des Scheidenden und dem üblichen Blumenstrauß, den Shehata zwischenlagert: Er muss noch arbeiten.
Friede, Freude, Eierkuchen
Nichts, aber auch gar nichts deutete noch im September des letzten Jahres auf den Abschied des Chefdirigenten hin. Ganz im Gegenteil: Bei der feierlichen Einweihung des Hauses der Musik in der Siegener Oranienstraße war alles noch Friede, Freude, Eierkuchen. Sah jedenfalls so aus. Die gute Stimmung zauberte auch der Mäzenin Barbara Lambrecht-Schadeberg ein Lächeln ins Gesicht. Denn die heimische Philharmonie hatte eine von ihr weitgehend finanzierte neue Heimat übernehmen können, die deutschlandweit ihresgleichen sucht und alles besitzt, was Musiker und Verwaltung brauchen: Getrennte, akustisch abgeschirmte Probenräume für die Instrumentengruppen, moderne Verwaltungsräume und vor allem einen Raum für Gesamtproben, der sogar die akustischen Verhältnisse der nächsten Auftrittsstation simulieren lässt.
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Der Unterschied zur Hilchenbacher Schützenhalle konnte nicht größer sein. Und als dann auch noch Andreas Müller in seinem Schlusswort erklärte: „Wir haben den Vertrag mit Nabil Shehata um drei Jahre verlängert. Er wird uns noch mindestens bis zum 31. August 2027 erhalten bleiben“, kam uneingeschränkte Freude auf, die auch die anschließenden Gespräche am kalten Büffet beherrschte. Viele Konzerte gingen ins Land, bei den Neujahrskonzerten schwang der Maestro höchstselbst den Taktstock. Ende Januar dann das große Festkonzert in der Siegerlandhalle, bei dem Shehata mit den Gästen der Gießener Philharmonie weit über 100 Musiker dirigierte – und dies mit der von ihm gewohnten Souveränität.
Der große Knall
Das große Erwachen kam dann im Februar: Nabil Shehata steigt aus seinem Vertrag aus, hieß es. Ein XXL-Furioso, als wären die dickste Pauke und der größte Gong des Orchesters gleichzeitig geschlagen worden. Zwar ist auch im Kulturbetrieb ein vorzeitiger Ausstieg aus einem bestehenden Vertrag möglich, wenn auch eher selten. Philharmonie-Intendant Michael Nassauer jedenfalls kann sich nicht an einen ähnlich gelagerten Fall erinnern. Klar können sich auch für einen Dirigenten plötzlich neue Perspektiven eröffnen.
Statt dann zu sagen: „Hey Landrat und Intendant, ich hab‘s mir anders überlegt, ich möchte mit größeren Orchestern arbeiten“, vergisst der Maestro plötzlich, dass die Philharmonie Südwestfalen, um deren Leitung er sich ja beworben hatte, mit ihren 70 Musikerinnen und Musikern nun mal kein Metropolen-Klangkörper ist. Dieser erlaubt keinen Vergleich mit den Berliner Philharmonikern, bei denen er als Solo-Bassist tätig war, mit ihren 128 Planstellen oder dem Leipziger Gewandhaus Orchester mit 170 Musikern. Wobei bei diesen Orchestern das Team dahinter ganze Bürofluchten ausfüllt. Man hört, dass Shehata mit einigen Orchestermusikern „über Kreuz“ liegt, ihre musikalischen Herangehensweisen divergieren. Doch das Sagen hat letztlich immer der Chef. Und dann das Thema Krankenstand, das Shehata zwischen den Zeilen anklingen lässt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der ungewöhnlich hoch ist, betrifft aber in erster Linie die Verwaltung. So muss Michael Nassauer seit einem Jahr ohne Assistenten auskommen, werden Orchesterwarte verzweifelt gesucht.
Alles vergleichsweise kleine Mosaiksteine und kein wirklicher Grund, einen unterschriebenen Vertrag aufzulösen. Und: So etwas bei einem Konzert mitleidheischend über den Apollo-Bühnenrand hinaus zu erklären und das an einem Konzertabend, bei dem der Intendant ausnahmsweise einmal nicht anwesend ist, ist schlechter Stil. „Armer Shehata“, hieß es bei manchen Klassik-Freunden nach diesem Abend.
Was bleibt
Nabil Shahata hat während seiner fünf Siegener Jahre das Orchester weiterentwickelt, vor allem den Streichern einen neuen Klang-Glanz vermittelt, Musiker und das Publikum in neue Sphären geführt, für große Momente gesorgt, etwa auch beim Konzert in der Elbphilharmonie. Das sieht auch Michael Nassauer so: „Der Abgang von Nabil Shehata ist doppelt bedauerlich, weil ich ihn kenne: Ein Weltklasse-Musiker, der auch als Dirigent unglaublich stabil und ruhig bleibt. Ich hätte mir gewünscht, dass das noch drei Jahre so weitergeht. Aber den Wechsel kriegen wir auch noch hin.“ Den wirklichen Grund für diesen unrühmlichen Abgang kennt nur einer: der ehemalige Chefdirigent selbst.
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