Siegen. Drei Abschiebe-Fälle empörten viele Siegen-Wittgensteiner. Ehrenamtliche berichten von Misstrauen, Ablehnung, Bürokratie in der Ausländerbehörde.
Es soll um Bleibeperspektiven für geduldete Geflüchtete gehen an diesem Abend in der Martinikirche. Der ohne die Auseinandersetzung um die Streitfälle Muradi, Agayan und Muradyan nicht auskommt: Junge Männer und ihre Familien, die gut integriert sind in Siegen-Wittgenstein, die aber eben keine Bleibeperspektiven haben (wir berichteten). Auf Einladung des Bündnisses „Recht zu bleiben“ soll überlegt werden, wie sich das am besten nicht wiederholt.
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„Wir könnten mit der Situation nicht umgehen, wenn wir nicht viele gute Menschen hätten“, sagte Horst Löwenberg vom Bündnis, auch und gerade jetzt mit den vielen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine. „Wir brauchen die Leute!“ In Sonntagsreden würden die Freiwilligen gelobt – und mit Abschiebe-Aktionen wie in den Fällen Muradi und Muradyan werde ihr Engagement mit Füßen getreten. Sie kümmerten sich um die Familien, jahrelang, nähmen sie in ihre Dorfgemeinschaften, Bekannten- und Freundeskreise auf – und plötzlich müssten die Menschen zurück. „Für die Integrationslotsen, die, die beim Ankommen helfen ist das schwer zu ertragen“, so Löwenberg. Auf einmal müssten sie, die mit viel Empathie die Menschen begleiten, mit der Ausländerbehörde kämpfen. „Wir verheizen die Leute.“ Menschen wie die Muradis oder die Muradyans abzuschieben sei nicht human, nicht vernünftig, nicht richtig, bekräftigte Horst Löwenberg: Arbeitskräfte würden aus tausenden Kilometern Entfernung zum Arbeiten nach Deutschland geholt – und die die hier sind, Arbeit haben und Deutsch sprechen, sollen gehen. „Das passt nicht zusammen.“
„Keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Ausländerbehörde Siegen-Wittgenstein“
Das bekräftigte Helga Dellori: Als ehrenamtliche Integrationslotsen erlebe man tiefgreifendes Misstrauen seitens der Behörde ihren Schützlingen gegenüber, wenig Kooperationsbereitschaft, die grundsätzliche Unterstellung, dass sie lügen würden. „Ich bitte um mehr Unterstützung für das Ehrenamt und für die Arbeitgeber.“ Denn auch die hätten sich Mühe gegeben, den Menschen Chancen eingeräumt, Sprachkenntnisse gefördert, Arbeitsverträge ermöglicht. „Für die Region ist es unendlich wichtig, diese Arbeitskräfte zu halten – es wird nicht besser, es wird schlimmer.“ Der Personalmangel in der Pflege stehe einerseits ganz oben auf der politischen Agenda – da seien ausländische Arbeitnehmer wie auch ihre Arbeitgeber natürlich glücklich und dankbar, wenn sie alle zwei Wochen zur Ausländerbehörde zitiert würden, sagte sie ironisch: „Wir brauchen keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in der Behörde, die haben genug zu tun!“ Man solle die Menschen in Ruhe Arbeiten lassen und nicht in Angst und Schrecken versetzen.
Andreas Benkendorf, Eigentümer des Hotels „Alte Schule“ in Bad Berleburg und Arbeitgeber Robert Muradyans, richtete einen emotionalen Appell an Landrat und Landespolitik, für seinen Angestellten und für die Region: „Wir sind ein kleines Hotel und auf jeden Mitarbeiter angewiesen. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, betonte Benkendorf. Muradyan sei ein äußerst fleißiger Mann, von allen geschätzt, „wir sind heilfroh über ihn, so einen kriege ich nie wieder!“ Er wünsche sich, dass sich der Landrat, so wie er sich vor seine Untergebenen in der Ausländerbehörde stelle, vor Menschen wie Elvin Muradi und Robert Muradyan, ihre Familie und die Menschen in Siegen-Wittgenstein stelle und der Politik signalisiere, dass er nicht einverstanden ist mit dem. was mit ihnen passiert.
Landrat Andreas Müller betonte: Ohne Ehrenamt wären Herausforderungen für Staat und Gesellschaft wie Zuwanderung, Corona, nun der Ukrainekrieg nicht zu schaffen. „Es ist mein höchstes Interesse, das Ehrenamt nicht zu vergraulen oder vor den Kopf zu stoßen.“
Landrat stellt sich vor die Kreisausländerbehörde Siegen-Wittgenstein
Landrat Müller verteidigte die Kreisausländerbehörde: Der Diskurs rund ums Thema sei jahrzehntelang nicht geführt, die Gesetzgebung nicht modernisiert worden – es brauche dringend Änderungen. Die von der Bundesregierung beabsichtigten Modifizierungen indes würde in den Fällen Muradi und Muradyan wohl auch nicht im Sinne des Bündnisses helfen. Derzeit habe der Staat aber nun einmal – veraltete – Regeln, nach welchen Kriterien Menschen aufgenommen und in Deutschland bleiben können.
Kirchenasyl
Karen Agayan, ebenfalls von Abschiebung bedrohter junger Mann armenischer Abstammung (wir berichteten), befindet sich mittlerweile im Kirchenasyl. Das berichtete Dechant Karl-Hans Köhle.Man gewähre das Kirchenasyl, um auch Agayan die Chance zu geben, an die Härtefallkommission zu appellieren.
Die Kreisausländerbehörde befinde sich am Ende einer langen Kette, die im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beginne und inzwischen regelmäßig über Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte führe – „und wir sollen dann diese Entscheidung, die als Recht betrachtet wird, durchsetzen.“ Keine Einzelperson könne dieses Recht in Frage stellen, weder er noch ein Behördenleiter – zumal ja in den Fällen Muradi und Muradyan auch Petitionsausschuss und Härtefallkommission nicht im Sinne der Betroffenen entschieden hätten.
Flüchtlingsrat: Kinder sollen Schule beenden, nicht über Nacht abschieben
Das bewertete Ali Ismailovski vom NRW-Flüchtlingsrat anders: Der Verein erlebe Härten nach Recht und Gesetz – und er erlebe auch Ermessensspielräume bei für die Betroffenen negativen Entscheidungen. Der Schutz der Kinder etwa könne sehr hoch bewertet werden – eine Ausländer- sei auch immer Ordnungsbehörde, die zwar vollstrecken, aber auch beraten müsse. Die Stadt Köln habe ein entsprechendes Prinzip verabschiedet, das auch die familiäre Gesamtsituation berücksichtige. „Ein Kind kann die Schule beenden, ohne in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zuhause abgeholt und abgeschoben zu werden“, so der Aachener – in seiner Stadt hätte die Behörde anders reagiert, wenn es um Kinder gehe. „Es gibt schon auch ein paar mit anderen Blickwinkeln.“
Das sei auch eine Frage der politschen Führung: Es sei auch eine Frage, wie Sachbearbeiter mit den Geduldeten umgehen – sie „beliebig oft antanzen lassen“ oder eben die Vorgabe, dass Abschiebungen stattzufinden hätten statt die Anweisung, möglichst alle Spielräume zu nutzen. Manche hätten dann den Fokus im Kopf: „Der muss weg, der Rest interessiert dann oft nicht.“ Und die Perspektive der Betreuer sollte stärker mit eingebunden werden, so Ismailovsky: „Das fehlt hier.“
Siegener Landrat kritisiert Joachim Stamp: Weniger wohlfeile Wochenend-Tweets
Er würde sich wünschen, sagte Landrat Müller, dass Joachim Stamp, Landesminister für Integration und Flüchtlinge, weniger Zeit für wohlklingende Wochenend-Tweets aufbringen würde, sondern seiner Verantwortung nachkäme: Der FDP-Politiker hatte zum Fall der Familie Muradi geschrieben, dass es die klare Vorgabe in NRW gebe, Straftäter und Gefährder konsequent abzuschieben, nicht aber integrierte Azubis oder Arbeitnehmer. Es gebe Bundesländer, bei denen Betroffenen Zeit eingeräumt werde, Voraussetzungen zu erfüllen – Nachweis des Sprachniveaus, Mitwirkung bei der Passbeschaffung, Integrationskurs. Stamp sei in der Realität davon weit entfernt.
Horst Löwenberg verwies auf Berichte von Integrationslotsen, wonach es mit der Siegener Ausländerbehörde weniger Probleme gebe als mit der des Kreises: Tatbestände, die für die Geflüchteten sprächen, würden beim Kreis weniger gesehen, vielmehr eher Negatives. Auch das Jugendamt werde nicht eingeschaltet, was Bernd Zimmermann, katholisches Jugendwerk Förderband und Mitglied des Jugendhilfeausschusses, bestätigte. „Ein Vater habe kein Verhältnis zu seinem Kind – woher wissen die das, wenn sie die Menschen nur aus der Akte kennen?“, so Löwenberg. Ein anderes Beispiel sei, dass die Kreisausländerbehörde die Menschen selbst während der Corona-Lockdowns alle paar Wochen nach Siegen zitiert habe, während die Stadt Siegen solche Dinge schriftlich erledigt habe.
„Ich kann nachvollziehen, dass das nicht nachvollziehbar ist“, antwortete Andreas Müller – er werde sich das noch einmal anschauen. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass viele Rathäuser in dieser Zeit keinen Besucherverkehr erlaubt hatten, während das Kreishaus immer für persönliche Termine offen gewesen sei.
Aufgeheizte Atmosphäre in Siegen-Wittgenstein künftig vermeiden – früher Dialog
17.000 Ausländer betreut die Behörde im Kreis im Jahr 2021, davon sind 560 ausreisepflichtig, davon reisten 50 aus, davon 20 freiwillig: Landrat Müller verwies auf die Relationen – Perspektiven zu schaffen mache einen weitaus größeren Anteil der Arbeit aus, als die drei Fälle, auf die es nun sehr unterschiedliche Sichtweisen gebe. Das aufgeheizte Klima in der öffentlichen Diskussion habe sich aber auch in dieser Runde auf eine sachliche Ebene heruntergekühlt, lobte nicht nur der Landrat – und das sei sicher der Hauptansatz, um künftige Auseinandersetzung möglichst zu vermeiden. „Im sehr frühzeitigen Dialog und dem Erkennen von Spielräumen, so es sie gibt, liegt der Schlüssel“ – neben einer geänderten Gesetzgebung.
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Das bestätigte Horst Löwenberg: Sei ein Fall erst einmal durch die Instanzen und auch vor Gericht gelandet, werde es ungleich schwerer.