Siegen/Netphen. Karen Agayan kam als Kind aus Armenien nach Siegen-Wittgenstein, nun soll er abgeschoben werden. Er will Freundin und Kind nicht zurücklassen.

Karen Agayan will nicht zurück nach Armenien. Seit 2011 lebt der heute 23-Jährige in Deutschland, kam damals als Kind mit seiner Familie ins Siegerland, mit Eltern und Bruder. Nun soll er abgeschoben werden in ein Land, das er kaum kennt, dort Wehrdienst leisten, während des Konflikts mit Aserbaidschan. Zahlreiche Unterstützer, darunter Caritas, Paritätischer Wohlfahrtsverband, das Dekanat Siegen der katholischen Kirche, setzen sich dafür ein, dass Karen Agayan bleiben kann – vor allem, weil er sonst seine Lebensgefährtin und das gemeinsame Kind zurücklassen müsste.

Eine Online-Petition hat inzwischen hunderte Unterstützer. Die Zwickmühle: Karen Agayan hat keinen armenischen Pass. Erst wenn er den Wehrdienst leistet, kann er den bekommen. Genau das will er ja gerade nicht. Erst ab 27 Jahren kann man sich vom armenischen Wehrdienst freikaufen.

Die Vorgeschichte: 2011 kam die Familie Agayan nach Siegen-Wittgenstein

Karen Agayan ist Jeside. Seine Familie stammt aus Armenien, kam im Sommer 2011 nach Deutschland, wurde Netphen zugewiesen. Die Familie gab zunächst als Nachnamen den Familiennamen des Großvaters mütterlicherseits an, reichte später den Familiennamen des Großvaters väterlicherseits nach.

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Karen Agayans Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter wurde 2013 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt, mehrere Klagen dagegen blieben erfolglos, der Beschluss ist rechtskräftig. Agayan begann eine Ausbildung, das hatte aufschiebende Wirkung für seine Ausreise. Er brach die Lehre ab, begann eine zweite, brach sie ebenfalls ab. Inzwischen hat Agayan eine Lebensgefährtin, ebenfalls Jesidin aus dem kurdischen Teil Syriens, anerkannter Schutzstatus als Geflüchtete. Seit 2020 haben sie ein gemeinsames Kind, Karen Agayans Vaterschaft ist eingetragen, er hat Sorgerecht. Sein Vater und Bruder sind nicht von Abschiebung bedroht.

Darum soll Agayan laut Ausländerbehörde Siegen-Wittgenstein abgeschoben werden

Weil er aus Sicht der Ausländerbehörde und des BAMF seit 2015 vollziehbar ausreisepflichtig und seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist. Er habe sich nicht bemüht, einen Pass vorzulegen (weil der einzige Weg dazu der Wehrdienst ist) und zwei Ausbildungen abgebrochen, für die eine Duldung vorlag (die erste seinen Angaben zufolge wegen Zahlungsunfähigkeit des Ausbildungsbetriebs, eine aus gesundheitlichen Gründen).

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Aus Sicht des Staates gibt es zwei Gründe für die Einreise: Wegen Arbeit oder Schutzbedürftigkeit. Beides liege bei Agayan nicht (mehr) vor. Es gehe um die Rechtsgrundlagen: Darf nur bleiben, wer einen Anspruch darauf hat – oder darf jeder bleiben? „Aus Sicht aller, die da etwas zu entscheiden haben, hat Agayan kein Aufenthaltsrecht“, sagt Landrat Andreas Müller. Das sei mehrfach gerichtlich bestätigt – dennoch habe man ihm die Ausbildungsduldung gewährt, er seine Chancen aber nicht genutzt.

Ausländerbehörde Siegen-Wittgenstein: „Müssen nach Recht und Gesetz handeln“

Eine Frau zu schwängern sei als solches noch kein Automatismus fürs Bleiben, „das würde die Regeln aushebeln.“ Einzelschicksale, so verständlich sie, auch in diesem Fall, seien, könnten kein staatlicher Maßstab sein: „Vor dem Gesetz sind alle gleich.“ Selbst Türöffner oder Anhaltspunkte wie der Petitionsausschuss oder die NRW-Härtefallkommission hätten im Fall Agayan abgewunken. „Andernfalls hätten wir vielleicht eine Rechtsgrundlage zum Weiterentscheiden“, sagt Müller – aber hier setze die Verwaltung schlicht und einfach das Gesetz um und entscheide nicht. „Wir sind eine Behörde, wir müssen nach Recht und Gesetz handeln.“ Die Unterstützer bewege das Schicksal, das Persönliche. Das Amt handle auf Basis der vorliegenden Tatsachen. Den Vorwurf, ein Exempel statuieren zu wollen, weist die Behörde zurück. „Herr Agayan ist nach rechtskräftig abgeschlossenem Asylverfahren seit dem 11. September 2015 vollziehbar zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet. An diese Entscheidung ist die Ausländerbehörde gebunden.“

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Passersatzpapiere hat die Ausländerbehörde inzwischen nach eigenen Angaben besorgt. Zudem stehe jedem die Wiedereinreise auf dem Wege der Arbeitsmigration frei. Das sei etwa auch bei Kosovaren mehrfach so gewesen, die nach Ende ihres Schutzstatus zunächst ausreisen mussten.

Unterstützer aus Siegen-Wittgenstein: Grundgesetz schützt Familie – auch nicht-deutsche

Agayan hat „zumutbar“ an der Passbeschaffung mitzuwirken. Entscheidender Passus: Was ist „zumutbar“? Laut Ausländerbehörde, bestätigt vom Verwaltungsgericht Arnsberg, den Wehrdienst abzuleisten. Auch in einem bewaffneten Konflikt? Agayans Unterstützer sagen nein. Zumal Agayan von seiner Familie getrennt würde. Warum sollte seine Frau, die Schutzstatus in Deutschland hat, mit dem Kind nach Armenien gehen, wo ihr Partner in der Kaserne lebt? Außerdem basiert ihre Identität auf ihren eigenen Aussagen. Damit bekäme sie laut Agayans Anwalt nicht mal dann ein Visum in Armenien, wenn sie es wollte. Die Ausländerbehörde hat sich bei armenischen und deutschen Botschaften rückversichert: Die Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft in Armenien sei möglich und zumutbar.

2015, als das BAMF entschied, hatte Agayan weder Lebensgefährtin noch Kind. Aber jetzt. Und auch wenn beide keine deutschen Staatsangehörigen sind: Das Grundgesetz (Artikel 6) schützt ausdrücklich die Familie. Von Familie mit deutscher Beteiligung steht da nichts. Die Frau ist keine Deutsche, lebt aber berechtigterweise hier. Und damit auch ihr Kind. Das ein Recht auf seinen Vater hat. Es geht um die Familie als Konstrukt, nicht um Agayans Beziehungsstatus. Die Klage läuft.

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Außerdem, so der Vorwurf von Caritas und Co: Warum so ein Aufwand, um jemanden wie Agayan abzuschieben, für den sich namhafte Unterstützer verbürgen? Warum er – und sein Vater, sein Bruder nicht? Warum werde ihm vorgeworfen, unter falscher Identität eingereist zu sein – er war 13, begleitete seine Eltern. Man könnte Agayans Kind als Abschiebehindernis zunächst akzeptieren, finden die Unterstützer – es gebe ganz andere, integrationsunwillige Kandidaten, um die sich die Behörde deutlich weniger intensiv kümmere. Der Landrat könnte aus humanitären Gründen darum bitten, den Fall Agayan anders zu behandeln, sagen sie. Dann könnte er bei seinem Vater arbeiten und wäre damit auch raus aus dem Bezug von Sozialleistungen.