Aue-Wingeshausen/Siegen-Wittgenstein. Der Aufschrei nach der Verhaftung von Sevine Muradi ist riesig. Sie befindet sich schon nicht mehr in NRW. Landrat Müller reagiert auf Vorwürfe.

Die Kommentare in den Sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook zur Verhaftung der dreifachen Mutter Sevine Muradi überschlagen sich und sind voller Unverständnis über das Vorgehen. Die Wut richtet sich dabei gegen die Kreisverwaltung Siegen-Wittgensteins – und damit vor allem auch gegen Landrat Andreas Müller.

Große Welle der Empörung über die Abschiebehaft von Sevine Muradi aus Aue-Wingeshausen

Ihr Mann Elvin Muradi musste mit der Familie aus dem Heimatland Aserbaidschan fliehen

Familie ist in Aue-Wingeshausen gut integriert und unterstützt

Landrat Müller reagiert mit Verständnis auf die Entrüstung

„Lieber Andreas Müller, deine Ausländerbehörde, namentlich ihr leitender Schreibtischtäter Müller, hat heute im Kreishaus, in dem Du der Hausherr bist, die dreifache Mutter Sevine Muradi wie eine Verbrecherin gefangen nehmen lassen, ihr einen kurzen Prozess gemacht und sie mittlerweile in eine Einrichtung für ,Sammelabschiebungen’ in Ingelheim (Rheinland-Pfalz) gebracht (s. Erläuterung Ende des Berichts, Anm. d. Red.). Ihr Mann und die drei Kinder sind nun ohne ihre Mutter, die Mutter ohne ihren Mann und ihre Kinder. Deine Behörde lässt dazu verlauten, es handle sich um eine ,vollziehbar abschiebepflichtige Ausländerin’. Mit Verlaub, das klingt wie aus dem Wörterbuch der Unmenschen!“

Zweifel an dem Sozialdemokraten Andreas Müller

Diese Worte richtet Dr. Peter Neuhaus, Ansprechpartner des Bündnisses für Toleranz und Zivilcourage der Stadt Hilchenbach, an Landrat Andreas Müller in einem offenen Brief. „Lieber Andreas, ich habe mich aus Überzeugung für Deine Wahl und Wiederwahl zum Landrat eingesetzt, weil ich Dich für Dein couragiertes Engagement für eine gerechte, offene, faire und bunte Gesellschaft schätze. Wenn das Kreishaus in bunten Farben leuchtete, wusste ich, dass ich richtig gewählt habe“, so Neuhaus weiter.

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Jetzt aber zweifelt er an dem Landrat: „Wie kannst Du als Sozialdemokrat in der Tradition von Internationalismus, Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechten das zulassen? Das ist doch ein Verrat an allem, was gerade auch von Deiner Partei unter großen Opfern erkämpft wurde!“ Seit dem 11. Februar wisse er nicht mehr, worauf sein Vertrauen „auf Dich als ,meinen’ Landrat noch stützen soll! Was eine Enttäuschung!“

Landrat Andreas Müller bezieht Stellung

„Menschlich kann ich es total verstehen, dass die Menschen wegen diesem Schicksal jetzt so entrüstet sind“, erklärt Landrat Andreas Müller am Sonntagabend dieser Redaktion. „Aber als Landrat kann ich leider nicht eingreifen. Ich finde es ja schmeichelhaft, dass so viele Menschen glauben, dass ich diese Befugnisse habe“, so Müller. Das, was jetzt passiere, sei nicht weniger als das Ergebnis davon, dass die Asylpolitik auf Bundesebene seit Jahren nicht weiterentwickelt wurde.

„Es fehlen einfach die entsprechenden Gesetze, die wir dann hier vor Ort zugunsten Familien wie der Familie Muradi umsetzen könnten.“ Aber genau an die bestehenden Gesetze müsse sich die Kreisverwaltung halten. „Wenn man jetzt eine Ausnahme machen würde, wäre das Rechtsbeugung. Und was sage ich dann den über 500 anderen Familien im Kreisgebiet, die ebenfalls abschiebepflichtig sind?“, fragt Müller.

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Dass er nicht dialogbereit sei, wie ihm vorgeworfen wird, weißt er von sich. „Ich habe in keinem anderen Fall einer Ausländerfamilie so viele Gespräche geführt wie im Fall der Familie Muradi“, sagt Müller. „Woran machen wir fest, ob eine abschiebepflichtige Familie bleiben darf? An der besonders guten Betreuung? Am Maß der Öffentlichkeit?“, fragt der Landrat.

NRW-Minister Stamp schaltet sich auf Twitter ein

Das Schicksal der Muradis hat mittlerweile auch Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in NRW erreicht. Auf seinem verifizierten Twitteraccount schreibt er: „Es gibt die klare Vorgabe in Nordrhein-Westfalen, Straftäter und Gefährder konsequent abzuschieben, nicht aber integrierte Azubis oder Arbeitnehmer.“ Er habe angewiesen, den Fall von seinem Ministerium prüfen zu lassen. „Ich bin gespannt, was daraus wird. Wenn jemand eine Idee hat, wie die Sache zu lösen ist – gerne. Wir würden uns einer Lösung nicht versperren“, so Müller.

Grüne fordern Aufklärung

Auch die Grünen des Kreises fordern eine Aufklärung: „Die Grünen beantragen für die kommenden Ausschüsse und für den Kreistag den rechtlichen Hintergrund der Verhaftung, die Vorbereitung und Vollstreckung der Verhaftung während eines regulären Termins, die Trennung der Familie, die Versorgung

Familie Muradi aus Aue-Wingeshausen. Die dreifache Mutter Sevine Muradi wurde jetzt verhaftet und ist schon nicht mehr in NRW.
Familie Muradi aus Aue-Wingeshausen. Die dreifache Mutter Sevine Muradi wurde jetzt verhaftet und ist schon nicht mehr in NRW. © WP | Ramona Richter

der Kinder und der dadurch verursachte Druck auf den von Abschiebung bedrohten Ehemann Elvin Muradi zu erläutern. Zudem soll die Aufschiebung ausgesetzt, eine humanitäre Lösung für die Familie Muradi erarbeitet werden und die Aufgabenbereiche der Ausländerbehörde neu strukturiert werden.“

Das Bündnis „Recht zu bleiben“ hatte sich in den vergangenen Wochen für diese Familie stark eingesetzt und bereits über 1.300 Unterschriften für eine Petition zur humanitären Lösung sammeln können.

Laura Kraft: „Rigides Vorgehen ohne Rücksicht auf die Kinder macht fassungslos“

Auch Laura Kraft, Abgeordnete des Kreises im Deutschen Bundestag für Fraktion Bündnis 90/Die Grünen meldet sich zu Wort: „Nach Wochen des intensiven Austauschs mit Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen zum Schicksal der Familie Muradi, hat mich nun mit Entsetzen die Nachricht erreicht, dass Frau Muradi verhaftet wurde, als sie eine Ausbildungsduldung beantragen wollte. Die junge Mutter dreier Kinder wurde nach langem Hin- und Her wegen der drohenden Abschiebung ihres Ehemannes in der Kreis-Ausländerbehörde verhaftet.

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„Dieses rigide Vorgehen ohne Rücksicht auf die Kinder macht viele Menschen in Siegen-Wittgenstein fassungslos. Hier wird eine Familie aus der Mitte ihrer Dorfgemeinschaft gerissen: Sie sind Freunde, Nachbarn, ein Teil der Gesellschaft. Ich hoffe, dass die Angelegenheit schnell geklärt wird und Frau Muradi zu ihren Kindern zurückkehren kann.“Sie fordert einen dringenden Kurswechsel in der Asylpolitik.

Zum Hintergrund: Sevine Muradi aus Aue-Wingeshausen ist die Ehefrau von Elvin Muradi. Die Familie mit drei kleinen Kindern kam aus Aserbaidschan nach Deutschland. Der 30-jährige Elvin Muradi hatte in seinem Heimatland versucht, korrupte Strukturen aufzudecken und wurde daher verfolgt. Um in Deutschland bleiben zu können, braucht Elvin Muradi einen gültigen Pass, den er aber nicht besitzt. Um den zu beantragen, müsste er sich jedoch in Aserbaidschan zum Wehrdienst melden – für einen Mann wie Elvin Muradi wäre das jedoch Suizid, so sein Betreuer Helmut Kessler.

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Auch Muradi selbst befürchtet, diese Situation nicht zu überleben. Dennoch droht ihm seit einer Weile die Abschiebung, da er die nötigen Papiere nicht vorweisen kann. In Aue-Wingeshauen haben er und seine Familie sich bereits voll integriert, von dort erfahren sie auch Unterstützung durch den Dorfverein. Die Situation hat den jungen Mann sehr belastet, immer in Angst, dass Nachts die Polizei kommt um ihn abzuschieben. Schlafen kann er nur mit Medikamenten. Aus diesem Grund war auch am Freitag, 11. Februar nicht er in der Ausländerbehörde des Kreises, sondern seine Frau: „Ich bin nicht mit ihm gefahren, weil wir genau davor Angst hatten, dass man ihn verhaften könnte.“ Jetzt ist genau das seiner Frau geschehen.

So reagiert der Kreis auf die Abschiebehaft von Sevine Muradi

Mittlerweile ist sie schon nicht mehr in NRW, sondern wurde bereits nach Rheinland-Pfalz in eine Einrichtung für Sammelabschiebungen in Ingelheim gebracht.

In Ingelheim werden „abschiebepflichtige“ Frauen aus NRW inhaftiert

Die Gewahrsamseinrichtung für Ausreisepflichtige (GfA) in Ingelheim ist laut Wikipedia eine „spezielle Anstalt für Abschiebehaft, geführt durch die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion des Landes Rheinland-Pfalz. Ihre Aufgabe ist die Verwahrung und Betreuung von Ausländern zur Sicherung der Abschiebung.“ In Ingelheim werden deshalb weibliche Ausreisepflichtige aus Nordrhein-Westfalen untergebracht, da NRW keine eigene Hafteinrichtung für Frauen besitzt.

Beim Landtag wurde eine Petition eingereicht. Eine weitere Petition für das Bleiberecht der Familie kann weiterhin online unterstützt werden: https://www.openpetition.de/petition/online/unsere-nachbarn-bleiben-hier-solidarisch-gegen-eine-abschiebung-von-karen-agayan-und-elvin-muradi