Menden. Eine Alternative zur Flucht aus Afghanistan gab es für Bilal Iqbalzai nicht – auch, damit seine Tochter die Schule besuchen darf.

Von seinem früheren Leben ist Bilal Iqbalzai nicht viel geblieben. Fotos, Dokumente, Unterlagen – und Erinnerungen an Erfolg im Beruf, an seine Familie, an Freunde. Das alles hat der 33-jährige Wirtschaftswissenschaftler zurückgelassen in seiner Heimat Afghanistan – um seinen Kindern ein sicheres und besseres Leben in Deutschland zu ermöglichen.

„It’s Menden.“

Busfahrer
als Bilal Iqbalzai und seine Familie in Menden ankommen

An seine Ankunft vor etwas mehr als zwei Monaten in Menden erinnert sich Bilal Iqbalzai noch gut. Es war abends im Dunkeln, und alles war anders als er sich Deutschland vorher vorgestellt hatte. Wie ein Dschungel habe der Wald in der Nähe der städtischen Häuser an der Bischof-Henninghaus-Straße auf ihn gewirkt. Zudem hatte er Bilder von glitzernden deutschen Großstädten im Kopf – nicht vom kleinen Menden. „It’s Menden“, habe der Busfahrer gesagt, gestoppt und die Familie aussteigen lassen. Die Erste, mit der er sprechen konnte, machte den Eindruck positiver: die städtische Sozialarbeiterin Lea Borchert, die sich gemeinsam mit ihrer Kollegin Gabriele Boss um die Geflüchteten in den Häusern an der Bischof-Henninghaus-Straße kümmert.

Menden
123 Frauen und Männer leben insgesamt in den beiden städtischen Häusern an der Bischof-Henninghaus-Straße 37 und 39. © WP Menden | Corinna Schutzeichel

Gemeinsam mit seiner Frau und seinen drei Kindern ist Bilal Iqbalzai aus seiner Heimat Afghanistan geflohen. Deutsch spricht er bislang nur wenig, erzählt er auf Englisch. Aber dafür verstehe er schon vieles, wenn er bei einem Gespräch auf Deutsch zuhöre. Vor einigen Tagen hatte er seinen ersten Schultag in einem Integrationskurs bei der Volkshochschule (VHS). In den Räumen der ehemaligen Bonifatiusschule auf der Platte Heide lernt er jetzt an vier Tagen in der Woche mit anderen Erwachsenen die deutsche Sprache mit dem Ziel, in ein paar Monaten den „Deutschtest für Zuwanderer“ zu absolvieren: „Endlich“, sagt Bilal Iqbalzai. Zwei Monate habe er auf den Platz im Sprachkurs warten müssen. 

Ausbildung für afghanische Mädchen

Bilal Iqbalzai möchte gerne eine Initiative starten, um afghanischen Mädchen eine Ausbildung zu ermöglichen. Er setzt sich dafür ein, dass afghanische Mädchen die Möglichkeit haben sollten, Bildung zu erhalten. Er sagt: „Bildung ist das erste Menschenrecht. Warum haben afghanische Mädchen keinen Zugang zur Schule?“

Dass er mit 33 Jahren – nach zehn Jahren im Berufsleben – wieder die Schulbank drückt, ist für Bilal Iqbalzai in Ordnung, er will die deutsche Sprache lernen. Doch gleichzeitig ist er, der sich in seiner Heimat beruflich so viel erarbeitet und erreicht hat, in einer schwierigen Situation. In Afghanistan habe er als Volkswirt (Master of Economics) für das Finanzministerium der afghanischen Regierung gearbeitet, habe beispielsweise Konzepte zum Thema Empowerment afghanischer Frauen verfasst, am „Afghanistan National Peace and Development Framework“ mitgearbeitet, an internationalen Konferenzen zum Beispiel in London und in Genf teilgenommen. Darüber hinaus verfüge er über Arbeitserfahrung bei internationalen Organisationen wie etwa der Weltbank, der Asian Development Bank und der Europäischen Union in Afghanistan und habe an Konferenzen und Tagungen hochrangiger EU-Vertreter teilgenommen.

Dicker Stapel mit Diplomen und Zertifikaten

Foto um Foto nimmt Bilal Iqbalzai aus einer Mappe, die sein berufliches Leben dokumentiert. Stolz zeigt er Bilder, die ihn beispielsweise mit Aschraf Ghani – bis August 2021, als die Taliban die Hauptstadt Kabul einnahmen, Afghanistans Staatspräsident – zeigen. Einen dicken Stapel mit Diplomen und Zertifikaten von ihm selbst und seiner Ehefrau blättert Bilal Iqbalzai ebenfalls durch. Als die Taliban kamen und die Macht übernahmen, sei alles anders geworden, blickt er traurig zurück. Die Angst um Leib und Leben und die Sorge um seine Familie gehörten von da an zum Alltag.

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Als er sein Heimatland verlassen wollte – mit dem Wunsch nach einem Leben in Freizeit und ohne Angst –, durfte er nur einen kleinen blauen Rucksack und eine kleine Reisetasche mitnehmen. Alles andere musste er zurücklassen, sonst hätten die Taliban ihn und seine Familie – als sie an der Landesgrenze zu Pakistan standen – nicht ausreisen lassen, erzählt er. Für die Kinder konnte das Ehepaar Wechselsachen in den Rucksack packen. Er selbst habe nur die Kleidung mitnehmen können, die er gerade trug, berichtet Bilal Iqbalzai.

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Lea Borchert, Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin der Stadt Menden, ist für viele Menschen in den Wohnhäusern an der Bischof-Henninghaus-Straße die erste Ansprechpartnerin bei Fragen im Alltag.  © WP Menden | Corinna Schutzeichel

„Ich habe mein Leben zurückgelassen – für meine Kinder.“

Bilal Iqbalzai
aus Afghanistan geflüchtet

„Ich habe mein Leben zurückgelassen – für meine Kinder“, sagt Bilal Iqbalzai wehmütig. Denn seine zweijährige Tochter beispielsweise hätte in Afghanistan unter dem Einfluss der Taliban später nie die Chance auf Bildung bekommen: „Mädchen dürfen nur sechs Jahre in die Schule, dann müssen sie zu Hause bleiben“, erzählt Bilal Iqbalzai. „Das ist nicht fair, das kann ich nicht akzeptieren.“ In Deutschland habe seine Tochter durch das Recht auf Bildung ganz andere Chancen.

Bilal Iqbalzais ältester Sohn ist acht Jahre und besucht bereits die Anne-Frank-Grundschule. Er hat einen weiteren Sohn, der fünf Jahre alt ist.

„Ich denke an die Person, die mal war.“

Bilal Iqbalzai
sagt, dass er körperlich zwar in Menden, doch mental noch in Afghanistan sei

Körperlich sei er in Menden, doch mental noch in Afghanistan, sagt Bilal Iqbalzai nachdenklich: „Ich denke an die Person, die mal war.“ Seine Mutter, seine Brüder leben weiterhin dort. Die Sorge um die Sicherheit seiner Familie treibt ihn um. 

Vertrauen, dass Gott ihm den weiteren Weg weisen wird

Ihn ärgert, dass seine Religion – der Islam – durch die Situation in seinem Heimatland „mit Krieg, mit Kampf“ in Verbindung gebracht wird. Der Islam bedeute, „Frieden und höflich und freundlich zu Menschen zu sein. Der Islam schreibe vor, zu studieren, sich Wissen anzueignen“, sagt Bilal Iqbalzai. Er vertraue auf Gott, dass dieser ihm den weiteren Weg weisen werde. Dennoch bleiben Wehmut und Heimweh.

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Bilal Iqbalzais zweijährige Tochter Madina Iqbalzai ist hier in afghanischer Tracht zu sehen – und „mit großen Träumen“, wie ihr Vater erzählt. © Bilal Iqbalzais | Bilal Iqbalzais

Im Moment haben Bilal Iqbalzai und seine Familie keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. „Wir haben ein Visum für sieben Monate“, erzählt er. Wenn dieses ende, bekommen sie „möglicherweise eine Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre oder ein Jahr“.

„Ich habe keine Hoffnung.“

Bilal Iqbalzai
Geflüchteter aus Afghanistan

Wie seine Pläne in Deutschland sind? „Ich habe keine Hoffnung“, sagt Bilal Iqbalzai traurig. Es sei ihm nahegelegt worden, dass er ja in einer Hotelküche oder auf dem Bau arbeiten könne. Er möchte nicht falsch verstanden werden, er sei dankbar, dass er mit seiner Familie nun in Deutschland leben dürfe: „Aber keiner gibt mir eine Chance.“ Inständig hofft er, dass sich dies in Zukunft ändert. Er wolle selbst für seine Miete, seinen Lebensunterhalt sorgen: „Ich bringe doch etwas mit – meine Fähigkeiten möchte ich gerne hier nutzen“, sagt Bilal Iqbalzai. „Leben leben wieder auf, indem man Menschen eine Chance gibt. Ich warte auf eine Chance, wieder aufleben zu dürfen.“