Hagen. Sie sehen abscheuliche Videos und Bilder, erfahren in Anhörungen furchtbare Taten an Kindern. Zwei Ermittler über ihre sensible Arbeit.
Es zieht sich durch die ganze Stadtgesellschaft. Akademiker und Arbeitslose. Beamte und Kleingewerbetreibende. Sexueller Missbrauch von Kindern und der Konsum riesiger Mengen abscheulichen kinderpornographischen Materials, so berichten es Matthias Wagner und Jennifer Gloede, geschieht in den unterprivilegierten und den angesehenen Haushalten dieser Stadt. Offen sprechen die beiden Kriminalbeamten darüber, was hinter bestimmten Hagener Türen geschieht. Ein Blick in den dunklen Abgrund jener Hagener, die Kindern so etwas antun und auf die Opfer, die das Leid ertragen müssen.

Viele Kinder werden auf Missbrauch vorbereitet
Um zu begreifen, welche Arbeit ein 15-köpfiges Team des Kriminalkommissariats 11, macht, muss man das Unvorstellbare aussprechen. Den Missbrauch von Säuglingen. Von Kindern, die ein, zwei oder drei Jahre alt sind. Grundschulkinder, die lange Zeit im eigenen Familiensystem auf den Missbrauch vorbereitet werden. Die meisten Fälle steigern sich. Oft erkennen die betroffenen Kinder erst spät, dass ihr Martyrium in anderen Familien nicht normal ist. Während des Sexualkundeunterrichts zum Beispiel an der weiterführenden Schule. Oder in Gesprächen mit Gleichaltrigen.
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
Selten, das erklären die Ermittler, sei es eine Adhoc-Tat. Nie geschehe es von jetzt auf gleich. Die sich steigernden Missbrauchsmuster entstünden oft über Jahre. Wenn es den Ermittlern bei der Anhörung der Kinder gelinge, die Wahrheit zu erfahren, war der Missbrauchsweg oft lang. In eigens hergerichteten Anhörungszimmern, die spielerische Gesprächsverläufe zulassen, offenbaren sich manche Kinder oder demonstrieren das Geschehene an Puppen.

Das Dunkelfeld ist riesengroß
48 Fälle des sexuellen Missbrauchs an Kindern gab es im Jahr 2023 in Hagen. „In Deutschland wurden im Jahr 2022 rund 15.500 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch angezeigt. Das Dunkelfeld ist aber um ein Vielfaches größer. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass bis zu eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland bereits sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren“, heißt es seitens der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland. Das seien ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse. Und weiter: „Viele dieser Fälle gehen nicht in die Kriminalstatistik ein, weil sie nie zur Anzeige gebracht werden, und bilden sich auch ansonsten nicht im Hellfeld ab.“
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
Die Fälle steigern sich
„Die meisten Fälle steigern sich in ihrer Entwicklung von einfachem Missbrauch zu schwerem sexuellen Missbrauch“, sagt Matthias Wagner. Die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ in Deutschland erklärt dazu: „Die Handlungen, die als sexueller Missbrauch bezeichnet werden, weisen eine große Bandbreite auf. Sie reichen von verbalen sexuellen Anspielungen bis zu körperlichen Übergriffen, wie z.B. bei Hilfestellungen beim Sport. Es gibt sexuelle Handlungen am Körper des Kindes („hands-on“), wie z.B. Zungenküsse oder Manipulationen der Genitalien, sowie schwere Formen sexuellen Missbrauchs, wie orale, vaginale und anale Penetration. Außerdem gibt es Fälle von Missbrauch, bei denen der Körper des Kindes nicht berührt wird („hands-off“), z.B. wenn Täter oder Täterinnen vor einem betroffenen Kind masturbieren, sich exhibitionieren oder diesem gezielt pornografische Darstellungen zeigen oder es auffordern, sexuelle Handlungen an sich – oder z.B. vor einer Webcam – vorzunehmen.“
„„Die meisten Fälle steigern sich in ihrer Entwicklung von einfachem Missbrauch zu schwerem sexuellen Missbrauch.““
„Vieles davon“, sagen Matthias Wagner und Jennifer Gloede, „ist für die meisten Menschen nicht vorstellbar. Das Jugendamt wird immer eingebunden.
Genau so unvorstellbar ist für Teile der Öffentlichkeit oft das Thema des Strafmaßes – was nun nichts mit der konkreten Arbeit des Teams im „KK 11“ zu tun hat. „Manche Urteile erscheinen mit Blick auf die zugrunde liegende Tat milde“, erklärt selbst die Unabhängige Beauftragte in Deutschland. Aktuell ist das übrigens die Journalistin, systemische Organisations-Beraterin und Politikberaterin Kerstin Claus. Vor allem, wenn Kinder schwer sexuell missbraucht würden und dabei oft nicht mehr als drei Jahre Haft herauskommen würden. Doch Geständigkeit, oft ein finanzieller Täter-Opfer-Ausgleich, die Nennung weiterer Täter würden das Strafmaß mildern, zivilrechtliche Klagewege und quälende Opferaussagen ersparen. Strafmilderungen, so die Unabhängige Beauftragte, in einer offiziellen Herausgabe seien demnach oft „sinnvoll und richtig“.
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
Hinweise kommen aus den USA
Vier Angestellte sind im Kriminalkommissariat 11 in Hagen ausschließlich damit beschäftigt, kinderpornographisches Material zu sichten. In 119 Fällen kamen die Hagener Ermittler im Jahr 2023 Personen auf die Schliche, die solches Material besitzen und verbreiten. Eine Vielzahl der Hinweise erhält das Team aus den USA vom „NCMEC“, dem „National Center for Missing & Exploited Children“. Zu deutsch: Nationales Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder. Im Rahmen internationaler Zusammenarbeit ist es auch mit europäischen und deutschen Behörden vernetzt und in der Lage, IP-Adressen und Namen präzise zu lokalisieren.
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161 Hausdurchsuchungen in Hagen
Zu 161 Hausdurchsuchungen kam es im vergangenen Jahr in Hagen mit dem Fokus Kinderpornographie. Vor Ort spielen sich oft Dramen ab. Ehefrauen erfahren von dem heimlichen Wirken ihrer Männer. Manchmal kommen die Ermittler in Familiensysteme mit Kindern herein. Auch das Thema Kinderpornographie spiele sich in allen Teilen der Gesellschaft ab. Sehr oft, so berichten die Ermittler aus Hagen, würden sie aber einen ganz bestimmten Täter-Typen antreffen. Mann, alleinstehend, chaotische Wohnzustände, sozial-isolierte Lebensweise. Oft arbeitslos. Fehlende Macht oder Verantwortung in Alltag oder Beruf würden sie über die Betrachtung des sexuellen Missbrauchs von Kindern ausleben.
Es sind vor allem Sammler
Es geht oft um Sammler. Nicht selten kommen Datensätze in Terrabyte-Größe zusammen. Auf dem Material ist die gesamte Bandbreite zu sehen. „Da gibt es unterschiedlichste Dinge. Man sieht Videos aus Familien, in denen der Missbrauch stattfindet, aber die Kinder nehmen es gar nicht als Missbrauch wahr, weil er sich entwickelt und gesteigert hat oder sie es nicht anders kennen. Dann gibt es auch den schweren sexuellen Missbrauch zu sehen“, deutet Matthias Wagner an.
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Die Betrachtung der Bilder bleibt herausfordernd
Für die Ermittler bleibt die Betrachtung der Bilder und Videos eine stetige Herausforderung. Jeder von ihnen hat die Möglichkeit zur Supervision, zur psychologischen Beratung, aber auch, jederzeit in eine andere Abteilung versetzt zu werden. Was tatsächlich nur für den Bereich der Kinderpornographie gilt. „Man eignet sich etwas an, das einen davor schützt, von dem Gesehenen oder den zum Teil belastenden Anhörungen betroffener Kinder nicht erdrückt zu werden“, beschreibt Hauptkommissarin Jennifer Gloede einen inneren Mechanismus.
Das geht für einen Teil des Gesehenen. Für Bilder, die leider immer wiederkehrend sind. „Videos, die schweren Missbrauch zeigen, bewegen uns dennoch immer wieder und erfordern immer wieder Gespräche“, sagt Matthias Wagner. Ebenso schlimm wie das bewegte Bild, sei die Tonspur.
In jedem Verfahren steckt ein Stück Lügde
In jedem Verfahren stecke ein Stück Lügde. Jener Ort im Kreis Lippe, an dem auf einem Campingplatz über Jahre Tausende Missbrauchsfälle an Kindern geschehen waren, steht seither symbolisch für die Jagd auf die Täter und die Verbreiter solchen Materials. Innenminister Herbert Reul hatte dafür eigens die Präsidien mit Kriminalbeamten für die Auswertung und Ermittlung verstärken lassen.
„Es ist eine sinnstiftende Sache“
„Wissen Sie, bei all diesem Fürchterlichen, was wir da sehen, machen wir eine sehr sinnstiftende Sache. Mit jeder erfolgreichen Ermittlung können wir der Gesellschaft helfen, indem wir Missbrauchstäter und Konsumenten von Kinderpornografie ermitteln und festnehmen, ein Strafverfahren ermöglichen und Kinder aus deren Händen befreien“, sagt Matthias Wagner. Doch er und Kollegin Gloede appellieren auch an die Vorsicht im täglichen Umgang mit viralen Medien. Wie zum Beispiel mit „Memes“. Selbst montierte und aus anderen Kontexten gezogene Fotos, die sich Jugendliche beispielsweise hin- und herschicken, ohne zu wissen, dass sie einen Straftatbestand erfüllen: das Verbreiten kinderpornographischer Schriften.
„Wissen Sie, bei all diesem Fürchterlichen, was wir da sehen, machen wir eine sehr sinnstiftende Sache. Mit jeder erfolgreichen Ermittlung können wir der Gesellschaft helfen, indem wir Missbrauchstäter und Konsumenten von Kinderpornografie ermitteln und festnehmen, ein Strafverfahren ermöglichen und Kinder aus deren Händen befreien“
Smartphone-Nutzung der Kinder im Auge halten
Auch naive „Selbstfilmer“, junge Männer und Frauen, die nackt vor der Kamera posieren, sind im Fokus. Die Plattform Youtube beispielsweise melde diese Videos dem Nationalen Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder. Wie andere Plattformen auch. „Für Eltern ist auch wichtig, zu verstehen, dass jedes Meme mal ein sexueller Missbrauch war. Wir raten dringend dazu, die Smartphone-Nutzung von Kindern und Jugendlichen genau im Blick zu haben. Es gibt zum Beispiel auch Apps zum Freigeben von Apps. In jedem Fall sollte man alle Inhalte aber mit seinem Kind besprechen“, sagt Jennifer Gloede.
Gesetzesverschärfung wieder zurückgenommen
2021 hatte es eine Gesetzesverschärfung gegeben. Das Verbreiten kinderpornographischer Dateien war vom Vergehen zum Verbrechen geworden. Das ist mittlerweile wieder rückgängig gemacht worden. Auch auf Druck von Staatsanwaltschaften und Verfolgungsbehörden. Menschen, die solches Material ungewollt zugespielt bekommen, zum Beispiel in WhatsApp-Gruppen, wurden auf Verbrechensgrundlage behandelt. Mindeststrafmaß: ein Jahr. Jetzt sollen Strafverfolgungsbehörden wieder flexibler agieren können.
Bei Hausdurchsuchungen können ganze Sozialsysteme zusammenbrechen, wenn es um den Verdacht des sexuellen Missbrauchs an Kindern oder Kinderpornographie geht. In wenigen Fällen von etwa 161 Hausdurchsuchungen im vergangenen Jahr in Hagen stellte sich heraus, dass der Besuchte nicht der Täter ist. „Es gibt Fälle, da wird das W-LAN-Passwort von außen geknackt und dann solches Material über die IP-Adresse desjenigen heruntergeladen. Deshalb ist ein leichtfertiger Umgang mit Passwörtern ja auch so schlimm. Manchmal können es auch leichtsinnige Jugendliche im eigenen Haushalt gewesen sein, die das Material herunterladen“, sagt Jennifer Gloede.