Hagen. Die in Hagen geborene Historikerin Andrea Löw (51) schreibt über die Deportation von Millionen von Juden. Was dieses Buch so besonders macht.

Das Wort „unvorstellbar“ ist kaum zu greifen. Wenn man es in diesem Falle wörtlich nimmt, wird es ein bisschen konkreter: Niemand kann sich vorstellen, was man empfindet, wenn plötzlich ein Evakuierungsbefehl erlassen wird und man nur noch wenige Stunden hat, bis man das eigene Haus, in dem man sich ein Leben aufgebaut hat, in dem man mit den Liebsten wohnt, verlassen muss. Ein Koffer, maximal 50 Kilogramm schwer - mehr darf niemand zu den Sammelstellen mitnehmen. Unvorstellbar ist auch das, was dann folgt: die Ghettos im Osten, die Konzentrationslager, die Massenvernichtung.

Diejenigen, die noch vom Unvorstellbaren erzählen können, sterben. Weil das Unvorstellbare der dunkelste Teil der deutschen Geschichte ist, der nun über 80 Jahre zurückliegt. Der Holocaust, die Judenverfolgung, die Vernichtung - das sind Themen, die die in Hagen geborene Historikerin Andrea Löw seit Jahrzehnten bewegen.

Unvorstellbares wird vorstellbar

Mit ihrem Buch „Deportiert“ leistet die Professorin einen besonderen Beitrag dazu, dass das Unvorstellbare ein Stück weit vorstellbar wird. Und vor allem: dass es nicht in Vergessenheit gerät. Dadurch, dass sie tausende Berichte, Briefe und Tagebuch-Einträge gelesen und ausgewertet hat, sie zusammenfasst und immer wieder in ihrem Buch daraus zitiert, gibt die 51-jährige Wissenschaftlerin, stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München, Opfern des NS-Regimes eine Stimme.

„Die Juden in Deutschland haben sich als Deutsche gefühlt. Sie hatten sich hier ein Leben aufgebaut. Und dann brach all das für sie zusammen.“

Prof. Andrea Löw
Historikerin

„Die Frage, was die Deportation für die Juden selbst bedeutet hat, beschäftigt mich schon lange“, sagt Andrea Löw, die sich bereits in ihrer Doktorarbeit in einem Kapitel mit dieser Fragestellung beschäftigt. „Die Juden in Deutschland haben sich als Deutsche gefühlt. Sie hatten sich hier ein Leben aufgebaut. Und dann brach all das für sie zusammen.“

Spuren von Terror und Gewalt

Das Buch „Deportiert - Immer mit einem Fuß im Grab. Erfahrungen deutscher Juden“ ist ein nächster Schritt, eine Weitererzählung dessen, über das Menschen heute im wahrsten Sinne des Wortes stolpern. „Die Stolpersteine, die in vielen deutschen Städten in Gedenken an ermordete Juden verlegt worden sind, halte ich für einen wichtigen Teil der Erinnerungskultur. Das ist eine großartige Idee“, sagt die Historikerin. „Aber ich möchte erzählen, was sich hinter den dort genannten Orten, an die die Juden verschleppt wurden, verbirgt und erzählen, was wir sonst noch über diese Menschen wissen.“

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Auch in Hagen und Hohenlimburg wurden Juden deportiert. Dieses Foto ist im Jahr 1942 in Hohenlimburg entstanden.
Auch in Hagen und Hohenlimburg wurden Juden deportiert. Dieses Foto ist im Jahr 1942 in Hohenlimburg entstanden. © WP | WP-BILD,

Wer sie waren, wie sie gelebt haben und vor allem, was sie empfunden haben - das ist der Schwerpunkt, den Andrea Löw in ihrem Buch setzt. „Man muss sich das vorstellen - die Menschen kamen nach drei- bis viertägigen Zugfahrten in Ghettos an, in denen wie in den Städten Riga oder Minsk erst wenige Tage zuvor abertausende einheimische Juden, die dort bislang lebten, erschossen worden waren. Die Spuren von Terror und Gewalt waren deutlich sichtbar, aber dort sollten sie nun wohnen. Nach und nach ist ihnen dann klar geworden, welch schreckliche Massaker dort verübt worden waren.“

Autorin will Menschen berühren

Auch darum geht es in ihrem Buch, das - wie die Wissenschaftlerin selbst sagt - eben keine rein wissenschaftliche Studie ist. „Ich habe die Hoffnung“, sagt sie, „dass diese Berichte Menschen berühren, dass sie Empathie wecken.“

„Eine Erkenntnis ist auch, dass es Gruppen gibt, die wir nur schwer, wahrscheinlich nie erreichen werden.“

Prof. Andrea Löw
Historikerin

Dass während des Drucks herauskam, dass bei einem Geheimtreffen von Neonazis und Mitgliedern der AfD in Potsdam Pläne für die Abschiebung von Millionen von Ausländern geschmiedet wurden, macht für Andrea Löw einmal mehr deutlich, welche Bedeutung allgemein verständliche und leicht zugängliche Publikationen auf diesem Gebiet haben. „Wenn wir Kontakt zu Schulen haben, im Austausch mit unseren Studenten, in all dem, was wir weitergeben, was wir lehren, merken wir, dass wir Menschen berühren können“, sagt Andrea Löw, „aber eine Erkenntnis ist auch, dass es Gruppen gibt, die wir nur schwer, wahrscheinlich nie erreichen werden.“

Distanz schwindet beim Schreiben

Die Auseinandersetzung mit all den Quellen, die sie für das Buch und für ihre Forschung nutzt, berühren auch Andrea Löw selbst. „Als Historikerin gehe ich professionell mit Themen um“, sagt sie, „aber die Geschichten, die Schicksale - sie werden im Laufe des Schreibens immer schlimmer, immer härter. Mit jeder Station kommt der Massenmord näher. Wenn beschrieben wird, wie Enkel oder Kinder deportiert werden und wie das wiederum die Eltern und Großeltern trifft - das sind letztlich Momente, da möchte ich die Distanz auch gar nicht mehr wahren. Ich möchte die Empathie behalten. Wenn mich das nicht berühren würde, hätte ich wohl den falschen Beruf.“

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Findet Ausgleich beim Laufen: Andrea Löw bei einer Veranstaltung in der Mongolei. © Andrea Löw | Isa

Abstand gewinnt Andrea Löw beim Laufen. Einem Sport, den sie in einer Form wie nur wenige andere betreibt. Zuletzt beim „Grand to Grand Ultra“, einem Serien-Marathon über mehrere Tage vom Grand Canyon zum Bryce Canyon - 275 Kilometer, 5500 Höhenmeter. „Da bin ich eine Woche ohne Handy unterwegs, ganz für mich“, sagt sie, „in diesen Tagen bekomme ich den Kopf frei.“